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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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natürlich besser als ich«, gab Sejer zu.
    »Also verlasse ich mich auf dich. Jetzt fangen wir an«, sagte er eifrig. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt mit Figuren spielen durfte«, fügte er hinzu. »Wir Erwachsenen spielen nicht mehr. Eigentlich ist das dumm, finde ich. Denn beim Spielen können wir sehr viel sagen. Hier ist Ida«, erklärte er. »Und hier bist du. Ihr steht in deinem Wohnzimmer, vielleicht, denn Ida ist zu Besuch gekommen. Das hier ist deine Mutter. Sie ist noch nicht da, also legen wir sie auf die Seite. Nach hier hinten vielleicht.« Er schob die Elsa-Figur an die Tischkante. Elsa trug ein rotes Kleid, und ihre Haare sahen aus wie eine braune Haube. Die Figuren standen ganz gerade da und ließen die Arme nach unten hängen. Drei kleine Plastikgestalten starrten einander abwartend an. Es war deutlich, daß etwas passieren würde. Diese stummen Figuren hatten ihre ganz eigene Dramatik.
    »Ich dachte, du könntest mir alles zeigen«, sagte Sejer bittend. »Mir zeigen, was passiert ist.« Emil betrachtete den Tisch und sah Sejer danach ins Gesicht. Er starrte wieder die Figuren an. Das hier konnte er verstehen. Das hier waren handfeste, deutliche Dinge, die er verschieben konnte. Aber etwas fehlte. Etwas hielt ihn noch zurück. Sejer starrte ihn an und suchte nach einer Erklärung.
    »Ich konnte kein Mädchenfahrrad auftreiben«, sagte er. »Aber sie ist auf dem Rad zu dir gekommen, nicht wahr? Oder bist du ihr auf der Straße begegnet?«
    Emil schwieg. Er starrte nur die Figuren an.
    »Und so ein Dreirad wie deins konnte ich auch nicht finden. Nur ein rotes Motorrad. Kannst du mir trotzdem alles zeigen?«
    Emil beugte sich über den Tisch vor. Seine eine Hand war offen. Er hielt sie wie eine gewaltige Schale, eine große, warme Krümmung, und bewegte sie über dem Tisch, über allen Figuren. Diese Hand erinnerte Sejer an einen Kran, sie wurde fast mechanisch getrieben, und sie hielt direkt über der kleinen Ida in dem gelben Kleid an. Ab und zu schlüpfte die Zunge aus Emils Mundwinkel, und auf seiner Stirn zeigten sich immer wieder neue tiefe Furchen. Dann hob er die andere Hand, machte aus zwei Fingern eine Pinzette und hob Ida hoch. Sie baumelte an einem Arm. Vorsichtig legte er sie in seine offene Hand. Er starrte vor sich hin. Sonst passierte nichts mehr. Sejer konzentrierte sich mit aller Kraft. Es war klar, daß Emil etwas zeigen wollte.
    »Du hast Ida aufgehoben«, sagte Sejer. Emil nickte. Die Ida-Figur lag auf dem Rücken in seiner großen Handfläche.
    »Aufgehoben. Aber wo?« fragte Sejer.
    Emil rutschte hin und her, ohne die Figur zu verlieren. Wieder irrten seine Augen hin und her. Was habe ich vergessen? dachte Sejer. Irgend etwas fehlt ihm.
    »Kannst du Ida dahin legen, wo du sie aufgehoben hast?« fragte er.
    Emils Hand setzte sich wieder in Bewegung. Sie wanderte bis zur Tischkante, so weit weg, wie sie sich von dem, was sein Haus darstellte, nur entfernen konnte. Dort legte er die Ida-Figur vorsichtig hin. Sejer starrte fasziniert auf diese Szene, die sich da auf der lackierten Tischplatte abspielte.
    »Du bist weit von deinem Haus entfernt«, sagte Sejer. »Du hast Ida woanders gefunden? Draußen?«
    Emil nickte. Er griff nach dem Motorrad, das sein eigenes prachtvolles Fahrzeug darstellen sollte. Jetzt schob er es mit zwei Fingern weiter und hielt erst an der Tischkante an, neben Ida. Er hob die Figur hoch, stellte sie auf die Füße und schob sie unsicher weiter. Dann ließ er sie fallen. Mit leisem Klirren kippte die Plastikfigur um. Danach wollte er sie auf dem Motorrad haben. Das war eigentlich keine Kunst. Die Beine der kleinen Figuren waren beweglich, aber darum ging es Emil nicht. Er wollte Ida unbedingt auf das Motorrad legen. Das war schwer, immer wieder rutschte sie hinunter. Er lief rot an, gab sich aber nicht geschlagen. Er versuchte es wieder und wieder.
    »Du hast Ida hochgehoben«, sagte Sejer. »Und sie hinten auf deinen Anhänger gelegt.«
    Endlich nickte Emil.
    »Warum mußte sie liegen?«
    Emil machte eine Handbewegung und wurde nervös.
    »Sie war verletzt, nicht wahr?« fragte Sejer. »Hast du sie angefahren? War das so?«
    »Nein. Nein!« Emil fuchtelte heftig mit den Armen. Mit einem Finger stützte er Ida, damit sie auf dem Motorrad liegenblieb, mit der anderen schob er es langsam über den Tisch. Zu seinem Haus. Dort hob er Ida herunter und legte sie aufs Bett.
    »Ich glaube, jetzt verstehe ich endlich«, sagte Sejer. Er sprang auf und
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