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Das Wiegen der Seele (German Edition)

Das Wiegen der Seele (German Edition)

Titel: Das Wiegen der Seele (German Edition)
Autoren: Dirk Ullsperger
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Prolog
     
    991 v. Chr.
     
    Es begann in einer kargen Landschaft aus trockenem, heißem Wüstensand. Vom Himmel herab schickte die Sonne ihre unbarmherzigen Strahlen auf die wenigen Pflanzen, die dem extremen Klima standhalten konnten. Das felsige Tal erstreckte sich ausgedehnt ins Land. Die einzig existierenden Lebewesen krabbelten im Sand und hinterließen ihre feinen Spuren.
    Zur gleichen Zeit, etwa vierhundert Fuß tief unter der Erdoberfläche des Tals, wurde in einer gewaltigen Gewölbekammer eine Zeremonie vollzogen, die kein Sterblicher je miterlebt hatte. Insgesamt siebenundvierzig Götter und gottähnliche Geschöpfe hatten sich zum Seelengericht eingefunden.
     
    Es roch süßlich und feine Nebelwände schwebten durch das kühle Innere des Gewölbes. Mächtige Säulen aus Marmor und Granit stützten die Decke. Feine Goldverzierungen versahen die sonst öden Wände mit schimmerndem Glanz. Hunderte flackernde Wand- und Bodenfackeln erhellten die Kammer und warfen die Schatten derer an die Wände, die sich dort versammelt hatten.
    An der Spitze hatte der Totenrichter Osiris, der Herrscher der Unterwelt, Gott des Jenseits und der Verstorbenen, seinen Platz eingenommen und thronte unter einem Baldachin. Rechts neben ihm stand der falkenköpfige Horus, in der linken Hand das blutende Herz eines Verstorbenen haltend. Links von Osiris saß Maat, die Herrscherin der Weltenordnung, Göttin der Gerechtigkeit und Wahrheit. Neben ihr hatten der ibisköpfige Thot , der Schutzherr der Schreiber, und die große Leichenfresserin Ammut ihre Plätze eingenommen. Im vorderen Teil des Gerichtssaales folgten zweiundvierzig weitere Richtergottheiten dem Geschehen.
     
    Das Kernstück des Raumes bildete eine goldene Waage mit zwei bunt verzierten Schalen aus Glas. Vor der Waage kniete ein Verstorbener mit gesenktem Kopf und wartete auf den Richterspruch.
    Sein Unterleib war nur mit einem ausgefransten Leinengewand umhüllt, das über und über mit geronnenem Blut bedeckt war. Sein gesamter Köper gab mit tiefen, offenen Wunden Zeugnis von den Torturen, die er die letzten Tage ertragen musste. In seinem linken Brustkorb klaffte ein faustgroßes Loch.
     
    Der Verstorbene war vor seinem Tod ein Hohepriester des Amun gewesen, aber er hatte das schlimmste Verbrechen begangen, dessen sich ein Angehöriger seines Standes strafbar machen konnte: Er hatte den Leichnam des letzten Pharaos bereits vor dessen Begräbnis entweiht, indem er die in die Mumie eingelegten Schutzamulette entwendet und sich daran bereichert hatte. Er war ein Grabräuber.
    Damit hatte er nicht nur gegen seine Gelübde und den Ehrenkodex seiner Priesterschaft gehandelt, sondern er hatte auch die Götter verhöhnt und – viel schlimmer – das Totenbuch, das alle Riten des Totenkults beinhaltet, entweiht.
    Der Priester musste daraufhin den schlimmsten aller Tode sterben. Auf Anordnung des neuen Pharaos wurde er bei lebendigem Leibe begraben und man gab ihm lebende Skarabäen mit ins Grab. Dadurch wurde der Hohepriester doppelt bestraft.
    Nun wartete er ungeduldig auf den Richterspruch des Osiris. Gab es für ihn, der alle Strafen ertragen hatte, jetzt eine Chance, in das jenseitige Reich der Verstorbenen einzugehen?
     
    Die Spannung im Raum war fast mit Händen zu greifen, ein solcher Fall war selbst hier außergewöhnlich. Die Verhandlung konnte jedoch nicht eröffnet werden, bevor der Überwacher des „Wiegens der Seele“ eintraf. Minutenlang beherrschte eine gespannte Stille die Gewölbekammer. Anubis, der schakalköpfige Begleiter der Toten in die Unterwelt, Gott der Einbalsamierung und Mumifizierung, ließ auf sich warten.
    Doch plötzlich bebte über ihnen die Erde. Mit mächtigen Schritten näherte sich ein Geschöpf auf der Erdoberfläche: Anubis. Seit Tagen strich er um die Nekropolen, nun kehrte er zurück, um seine Aufgabe auszuführen.
    Im gleichen Moment verzog sich die Sonne. Schwarzgraue Wolkengebirge quollen aus dem Nichts und verdunkelten den Himmel über dem Tal. Ein nicht enden wollendes Donnern und Dröhnen verschlang die Stille und Blitze zuckten nieder. Es begann zu regnen, aber wie das Gewitter nicht einfach ein Gewitter war, so war der Regen nicht einfach nur Regen. Es war, als stürze eine kompakte Wasserwand vom Himmel, eiskalt und mit solcher Wucht, dass sich alle Lebewesen in ihre Löcher und Unterschlüpfe verzogen.
    Die Erde bebte noch immer, als Anubis durch einen engen Durchlass kroch, dessen kreisrunder Schacht schräg in die
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