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Das Wiegen der Seele (German Edition)

Das Wiegen der Seele (German Edition)

Titel: Das Wiegen der Seele (German Edition)
Autoren: Dirk Ullsperger
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alles andere als frisch und kräftig. In seinen Träumen war er an einem Fluss entlang gewandert, umgeben von einer kargen Landschaft. Er war allein gewesen, und irgendwie doch nicht. Krampfhaft versuchte er sich nun zu erinnern, wer bei ihm gewesen war und was er eigentlich in dieser Gegend wollte.
    Nachdem das Telefon inzwischen das fünfte Mal klingelte, blickte er auf den Wecker auf seinem Nachttisch und stellte unter dröhnenden Kopfschmerzen fest, dass es Viertel nach fünf Uhr morgens war. Er rieb sich die Augen mit den Handrücken und fühlte sich, als hätte er keine Sekunde geschlafen.
    In Wirklichkeit waren es immerhin knapp drei Stunden gewesen. Am Vorabend hatte er sich wie üblich mit seinen Kumpels und ein paar Pokerkarten in seiner Stammkneipe vergnügt. Wie immer, wenn sie genug gezockt hatten, saßen sie noch zusammen, tranken und redeten. Und wie immer, wenn sie dann genug intus hatten, redeten sie über die Frauen und wie ungerecht doch die Welt war. Danach hatten sich dann – ebenfalls wie immer – sämtliche Vorurteile bestätigt und die Welt war wieder in Ordnung ...
    Tastend suchte er das Telefon, nahm den Hörer ab und grummelte: „Nettgen!“
    „Hallo Ralf, hier ist Löffler“, erklang die raue, fast kratzige Stimme seines Kollegen am anderen Ende der Leitung. „Ich störe nur ungern, doch letzte Nacht gab es einen Mordfall auf dem alten Förderturmgelände am Baldeney See.“
    „Oh nein“, erwiderte Nettgen, der sich inzwischen aufgerichtet hatte und allmählich Herr seiner Sinne wurde. „Verdammter Mist! Ja, du hast gestört! Was ist denn so besonders an dem Fall, dass ausgerechnet wir mitten in der Nacht zuständig sein sollen? Können die Jungs von der Nachtschicht nicht übernehmen?“
    Kommissar Löffler schwieg unerträglich lange, ehe er geduldig antwortete: „Weil irgendein wichtiger Vorgesetzter, dessen Name ich nicht kenne und von dem ich nicht weiß, wo sein Schreibtisch steht, entschieden hat, dass das nun einmal unser Mordfall ist.“ Er kannte Nettgens Art, einen mit Fragen, deren Antwort er schon längst kannte, auf die Palme zu bringen.
    „Ralf, es handelt sich diesmal um einen sehr bizarren Fall.“
    „Inwiefern bizarr “, stöhnte Nettgen, „ist eine Dragqueen von ihrem Lover enttarnt worden?“
    „Sehr witzig. Nein Ralf, bizarr an dem Fall ist, dass der Tote ein faustgroßes Loch in der Brust hat. Ich habe schon viel gesehen, aber so etwas ist mir in fünfzehn Jahren Ermittlungsdienst noch nicht unterkommen. Das musst du dir selbst ansehen. Ah, da kommen schon die Jungs von der Spurensicherung, also, beeil dich!“
    „Na dann“, murmelte Nettgen, „bis gleich.“
    Mit einem tiefen Seufzer beendete er das Gespräch und stellte fest, dass er einen Geschmack im Mund hatte, als hätte eine Babykatze ihn als Nachttopf benutzt. Er warf einen prüfenden Blick durch das Schlafzimmer. Seine Bettdecke und die Vorhänge waren aus einem der ersten Ikea-Stoffe, mit buntem Blümchenmuster, der allem Anschein nach schon etliche Jahre auf dem Buckel hatte. Frustriert ließ er sich wieder zurück aufs Bett sinken, wälzte sich noch eine Weile ruhelos hin und her und schwang dann doch die Beine über die Bettkante. Auf dem Nachttisch erspähte er eine zerknüllte Packung Zigaretten ohne Filter, in der sich noch ein letztes verbogenes Exemplar befand. Er zündete sie mit einem gelben Plastikfeuerzeug, von dem ihn ein Männchen mit der Aufschrift Keep Cool angrinste, an und schmeckte beim ersten Zug das Aroma von abgestandenem Aschenbecher. Er paffte wie jemand, der noch nie im Leben geraucht hatte, irgendwie trotzig. Ihm wurde schwindelig.
    Sein nächster Blick galt seiner Dienstkleidung, die er vor dem Schlafengehen auf das schwarze Ledersofa gegenüber dem Bett geworfen hatte. Eine dunkelblaue Diensthose – privat trug er nur Jeans –, ein weißes, mit Kaffeeflecken versehenes T-Shirt, das ungefähr eine Konfektionsgröße zu große Sakko und das leicht nach kaltem Schweiß riechende Oberhemd. Man konnte ihm viel vorwerfen, aber Eitelkeit gehörte nicht zu seinen Schwächen. Angeekelt ließ er das Hemd wieder fallen.
    Nachdem er sich gestreckt hatte ging er zum Fenster, zog die Gardinen zur Seite und öffnete es. Der beginnende Morgenverkehr störte die wohltuende Stille, doch wenigstens zog eine frische Brise durch das Zimmer und lüftete den muffigen Raum.
    Er schlurfte in die Küche, tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Ohne was Deftiges konnte er
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