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Schulterwurf

Schulterwurf

Titel: Schulterwurf
Autoren: Andreas Schlueter , Irene Margil
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herausbekommen, worum der Streit ging. Da! Wieder ein Wort, das sie kannte. »Nami-Juji-Jime.«
     So wurde ein bestimmter Würgegriff genannt.
    »Das kann doch nicht sein!«, brüllte einer aufDeutsch. »Ich hab es mit lauter Analphabeten zu tun! Ich dachte, ihr seid Japaner und einer von euch übersetzt mir das hier!«
    Also doch! Linhs Herz pochte bis zum Hals. Es ging um eine Übersetzung. Der brüllende Mann wird damit kaum eine Bedienungsanleitung
     eines Fitness-Gerätes gemeint haben. Sondern . . .
    »Kann ich helfen?«
    Linh erschrak. Der alte Mann stand plötzlich vor ihr. Noch immer lächelte er freundlich. »Hast du Schwierigkeiten mit deinem
     Schuhband?«
    Linh hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass sie immer noch kniete und pro forma an ihrem Schuh herumfummelte.
    »Oh«, stammelte sie. »Nein – geht schon – vielen Dank.«
    »Wirklich?«, hakte der Mann nach.
    Linh erhob sich und klopfte sich die Knie sauber. »Ja, ja, danke!«
    Der Mann wandte sich ab und stellte sich zurück an den Tresen.
    Was jetzt?, fragte sich Linh. Sie konnte schlecht einfach weiter hier im Foyer stehen bleiben. Außerdem hatte sie nun nicht
     mehr mitbekommen, wie der Streit der Männer ausgegangen war. Stattdessenhörte sie die Stimme der Empfangsdame: »Er ist jetzt da. Soll ich ihn schon reinlassen?«
    »Dumme Frage! Klar, und jetzt alle raus hier, alle, ich will euch Pfeifen hier nicht mehr sehen.«
    Die Frau kam nach vorn ins Foyer. Linh suchte fieberhaft nach einer Ausrede, weshalb sie hier immer noch herumstand. Sie entdeckte
     die Anmeldeformulare auf dem Tresen und tat so, als ob sie darin las. Aber die Frau beachtete sie gar nicht.
    »Bitte sehr!« Die Frau hakte sich bei dem alten Mann ein und führte ihn in den Hinterraum, aus dem ihnen mehrere Männer entgegenkamen.
     Nach Linhs Auffassung ausnahmslos Japaner.
    Plötzlich standen sechs Männer im Foyer, in dem sich Linh jetzt am liebsten irgendwo verkrochen hätte. Aber noch immer hatte
     niemand ein Auge für sie. Dazu waren die Männer viel zu aufgebracht. Sie schimpften und keiften, was das Zeug hielt.
    Leider verstand Linh kein einziges Wort. Aber sie hatte eine Idee.
    »Verzeihung!« Sie tippte dem kleinsten und dünnsten Mann in die Seite.
    »Was ist?«
    Linh strahlte innerlich: Na also! Er spricht auch Deutsch!
    »Wissen Sie, wo hier die Toilette ist?«
    »Keine Ahnung«, wies der Japaner Linh barsch ab. Er wandte sich wieder seiner Gruppe zu und schimpfte: »Was denkt der denn,
     wer er ist? Nur, weil er dieses Buch hat?« Er schimpfte plötzlich auf Deutsch.
    Linh feixte. Es hatte perfekt funktioniert! Sie kannte das von zu Hause. Dort sprachen sie in der Regel deutsch. Ein einziges
     vietnamesisches Wort genügte aber manchmal schon, dass plötzlich die ganze Familie auf Vietnamesisch weitersprach. Meistens
     merkten sie es nicht einmal.
    »Dafür haben wir ihm nun geholfen, das Buch aufzutreiben«, sagte einer der Japaner gerade. »Aber das lasse ich mir nicht bieten!«
    Die anderen stimmten ihm vorbehaltlos zu.
    Linh spürte ihr Herz im Hals klopfen. Buch? Sie sprachen von dem Buch! Wie sie es sich gedacht hatte!
    Die Japaner gingen Richtung Ausgang. Linh sah ihnen nach und überlegte, ob sie ihnen folgen sollte. Aber wozu? Das Buch, das
     sie suchte, lag vermutlich hier im Hinterzimmer.
    Als die Japaner durch die gläserne Tür hinaus stürmten, entdeckte sie auf der anderen Seite einen Jungen, der seinen Hund am Papierkorb festband. Im selben Augenblick vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Eine SMS! Linh
     zuckte zusammen und zog das Handy heraus. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Junge mit den entgegenkommenden Männern
     sprach.
    Sie schienen sich zu kennen, was Linh sehr seltsam vorkam. Denn der Junge war kein Japaner. Er war – Linh zuckte nochmals
     überrascht zusammen – es war Xaver! Xaver, der Grünheimer, der von Anfang an gegen Yamada Yuuto gelästert hatte. Hatte der
     nicht auch in Yuutos Vortrag gesessen? Was machte der denn hier? Und was hatte er mit den Japanern zu schaffen?
    Jetzt hielt sie nichts mehr an ihrem Platz. Es war bestimmt besser, wenn Xaver sie nicht sehen würde. Sein Zusammentreffen
     mit den Japanern erschien ihr weder zufällig noch bedeutungslos. Sie musste sofort aus seinem Blickfeld verschwinden. Hastig
     schaute sie sich nach einem geeigneten Versteck um. Direkt neben der Tür zum Hinterraum war ein Vorhang, der vielleicht eine
     Abstellkammer oder so etwas verbarg. Linh hatte keine Zeit,
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