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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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verlieren müssen. Wir sind frostgeküsste Blumen, die dem kommenden Winter nichts als aufreizende Farben entgegenzusetzen haben.
    Hier, am äußersten Bühnenrand, kann ich einen Teil des Publikums sehen. Die Lichtblindheit verliert sich, weil die meisten Scheinwerfer an mir vorbeistrahlen. Die Gesichter leuchten mir aus dem Dunkel entgegen, ein Feld nächtlicher Blumen, Todgeweihte wie ich, denke ich, Kinder des Nichts. Ich singe für sie.
    Während des Basssolos schließe ich die Augen, bleibe mit wippendem Kopf am Bühnenrand stehen. So, nicht spielend, nicht singend, spüre ich die Blicke aus dem Publikum am stärksten. Du könntest alles sein, sagen die Leute immer. Als wäre das mein Verdienst. Dass wir nichts sind, gibt uns die Freiheit, alles zu sein. Nichts schreibt uns fest. Nichts fesselt uns. Vielleicht sagen mir das nur diejenigen, die ihr eigenes Seinkönnen verlernt haben, die einfach vergessen, wie es geht. Während sie fernsehen oder ihre Katzenbilder ins Internet stellen. Während sie feiern. Während sie der Liebe nachlaufen. Während sie sich die Seele aus dem Leib schuften, eine Familie ernähren, Ehebruch begehen. Sie vergessen es und vergessen vielleicht sogar, dass sie es vergessen haben. In Ordnung, denke ich, lasst mich an ihrer Stelle alles sein, was ein Mensch nur sein kann. Alles, was sie brauchen. Ich will ein festes Gummiband sein, das sie zwischen sich und ihre Träume spannen können, damit ich an ihrer statt den Zug aushalte, das Ungestüm, mit dem diese Träume himmelwärts drängen. Ein Schmerzmittel will ich sein. Und eine Droge.
    Nach seinem Höhenflug poltert der Bass wieder hinunter in altbekannte Tiefen. Mit einem Ruck bringe ich das Mikro zurück an meine Lippen. Genug geträumt. Der Bassmann zurrt den Rhythmus fest. Die zweite Hälfte des Songs packen wir rauer an.
    Ich nehme den Mikrofonschaft in beide Hände. Meine Stimme krallt sich einen Weg in die Mitte des Raums, lässt sich dort nieder und erzählt ihre Geschichte, eine der vielen Geschichten, die sie erzählt. Sie lässt einer erfundenen Seele freien Lauf, zeichnet Skizzen eines Lebens, flippt ein Daumenkino handgezeichneter Möglichkeiten durch. Zwischen den Zeilen werfe ich Blicke ins Publikum. Das Rampenlicht wechselt von Rot zu Violett. Hinter mir saugt der Bassmann Luft ein, murmelt zwischen den Zähnen meinen Text mit, nur ich höre das. Der Mikrofonschaft wird unter der Hitze meiner Hände feucht. Ich fühle, wie der Lack auf meinen Fingernägeln spannt. Schwarz ist er heute, schwarz wie Miesmuscheln.
    Erst gegen Ende des Songs, als die elektronischen Zuspielungen unter der Basslinie verebben, wird mein Raunen wieder sanft. Ich schlinge es um die Basspulse, bis auch diese verstummen. Meine Stimme bleibt allein im Raum stehen. Ich lasse den Kopf sinken.
    Wie Goldflitter hängen noch die Spuren gehauchter Vokale in der Luft. Sie kitzeln die Stirnen der Leute, ein paar Schweißtropfen fließen. Ich selbst hänge noch in der Luft, aufgesplittert, goldfädig, da ist kein Unterschied mehr zwischen der satten Luft und meinem flirrenden Körper. Die Hitze der Lampen, die Reibung mit der Musik haben mich aufgelöst, ich schwebe, diffundiert, zwischen zweihundert Menschen. Zweihundert Lungen atmen die hauchige Lösung ein und aus.
    Der Bassmann berührt mich, ich muss ein paar Sekunden zu lange ins Mikro geschwiegen haben, zumindest berührt er die Stelle, die einmal meine Schulter war. Eine innige Empfindung ist das, seine Hand schmilzt in mein Flirren hinein. Ich rieche sein kräftiges Korianderparfum und den Metallgeruch an seinen Fingern. Zugleich spüre ich jede Bewegung unten im Saal, jeden Lidschlag, jeden Kuss, das Scharren der Füße, das Nippen an Biergläsern. Mein Verstand hat aufgehört, nach Ich und Nichtich zu sortieren. Ich nicke dem Bassmann zu. Alles in Ordnung. Alles okay.
    Ein Paar Lippen, etwas winterrissig, Kirschgeschmack, und zum Bersten gut durchblutet, beginnt breiter zu lächeln. Ein paar Worte fliegen in den Saal, kündigen den nächsten Song an. Das sind meine Worte, denke ich, meine Lippen, und freue mich über diese Banalität wie ein kleines Kind.
    Ich suche Damla, deren Wangen in der Menge leuchten, versuche, mein Lächeln bei ihr abzulegen, unbemerkt. Schau dich nicht um, der Fuchs geht um, es geht ein schlaues Tier herum. Vielleicht spürt sie, dass das Lächeln für sie ist, vielleicht auch nicht. Ein verklärter Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Sie könnte betrunken sein. Oder mir
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