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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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EINS
    Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir jedoch die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen.
    Durch das Rundglas schaute ich zu, wie deine Mutter hineingerollt, an Maschinen und Schläuche angeschlossen wurde. Die Gesichter der Ärzte bis auf die Augen von Gazemasken verhüllt, breitete man ein grünes Tuch über sie, sodass vom prallen Bauch unten bloß ein Rechteck blieb. In diesem abgemessenen Operationsfeld fing dein Leben an, einem keimfreien gefliesten Raum, in dem deine Mutter ihren Körper taub werden spürte.
    Drinnen nahm ich ihre Hand; sie ließ los: bleib weg, bleib weg, du bist schuld, die Schmerzen haben einen halben Menschen aus mir gemacht, das wolltest du doch, gib’s zu, murmelte sie. Stattdessen hielt mich der Anästhesist an der Schulter, um mich am Blick über die Schirmwand zu hindern. Ich entwand mich schließlich seinem Griff, um sehen zu können, wie sie dich mit den Füßen voran aus dem Leib zogen.
    Eine Steißgeburt warst du, dein Körper voll weißem Schmer, dein Haar kohlig schwarz dagegen. Blut troff von deinem Gesicht, du warst von der Stirn ab darin getaucht, mit der verschmierten Schnauze eines jungen Polarbären, der sich in einer Robbe festgebissen hat, um sie hin und her zu schütteln und auf die Scholle zu zerren, deine Zehen breit gespreizt, als wolltest du mit talgverklebtem Fell gleich davonstapfen, einen Fleischbrocken im Maul, Blut auf den Tatzen und der dahinter in den Harsch gezogenen Spur.
    Ein Schwall dunklen Meeres stieg derweil in deiner Mutter auf und nahm ihr die Luft; sie würgte, die Narkose lähmte ihre Lungenflügel: erst da habe ich dich schreien gehört. Zwei Krankenschwestern brachten deine Mutter weg und legten dich mir in die Arme. Du wolltest dich festbeißen, deine Schnauze erneut unter das Eis stecken, dich an meiner Brust festsaugen, bist dabei aber mit deinen Pfoten abgerutscht in meine Achsel, die Armbeuge. So erlagst du zum ersten Mal in deinem Leben einer Täuschung, einem leeren Versprechen.
    Wonach habe ich wohl für dich gerochen? Diese erste Zeit waren wir einander weder fremd noch vertraut; wir nahmen einander wahr, uns scheu berührend unter der Decke, die eine Schwester fürsorglich über uns legte.
    Natürlich konnte ich an diesem Abend nicht einschlafen. Ich ging zurück in mein kleines Atelier und begann mit dem Auftrag, den ich so lange vor mir hergeschoben hatte: eine Illustration des Himmels, von der Antike bis in die Neuzeit. Ich hatte bislang nur Vaters alte Edda hervorgeholt, den stockfleckigen Band, aus dem er mir als Kind vorgelesen hatte, wieder und wieder, sodass die vergilbten Seiten sich nun von selbst an seinen Lieblingsstellen öffneten, Versen in Frakturschrift, die ich jetzt nur schwer zu entziffern, aber immer noch auswendig aufzusagen weiß – wie aus des Riesen Ymirs Fleisch die Erde erschaffen wurde, aus seinem Blut das Meer, aus den Knochen das Gebirge, aus dem Schädel der Himmel, aus dem Gehirn Wolke um Wolke, seine Braue ein Landstrich aus Feuer und Eis.
    Solch eine Welt warf ich mit Rötel aufs Papier, die gähnende Leere bevor die Zeit anhob, wo die Sonne noch keinen Mittag und der Mond keinen Untergang kannte, es nur Stein, aber kein Gras gab… So wie ich dieses Universum skizzierte, wollte ich auch unser Leben beginnen lassen, und als ich es mit den Vögeln hell werden hörte, war ich gerade bei der Esche angelangt, ließ sie in den Wolken wurzeln und die drei Nornen hervortreten, die notlösenden Geburtshelferinnen und Schicksalsfrauen mit Namen Yrd, Verdandi und Skuld: Ward, Werde und Schuld.
    Nun sitze ich wieder an einem Bett; das Fenster steht offen, Kim duscht, draußen der grüne Hang, wo die Rebstöcke sich hinauf in das Flirren des Morgens reihen. Ich habe die Nummer deiner Mutter gewählt, um mit dir reden zu können, obschon ich weiß, dass niemand abheben, deine Stimme nicht zu hören sein wird, und bin schon jetzt wie erstarrt. Ich stütze den Kopf in die Hände und schlucke trocken, als könnte ich die Beklemmung hinunterwürgen, ehe Kim nass aus der Tür kommt und sieht, dass der Tag wieder seine Konturen eingebüßt hat, in sich zusammengefallen ist wie morgen und übermorgen auch, die ganze Reise, die eine Flucht zu uns und eine Fahrt zurück zu mir ist.
    Ich ziehe die dünnen Tafeln aus der Mappe und schlage das schützende Seidenpapier auf, als ließe sich an den Bildern noch etwas ändern. Zu Beginn bloße Lohnarbeit, haben sie mir doch mein ganzes
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