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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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habe ich Geld von Borg geliehen und Matti welches zurückgezahlt. Habe unvorbereitet vor zweihundert Menschen gespielt, und es lief erstaunlich gut. Mich mit dem Grafiker getroffen, Designs fürs neue Album besprochen. Von meiner Französischlehrerin höre ich hauptsächlich Schimpftiraden über Saskia, sie lasse neuerdings die Hälfte aller Französischstunden ausfallen. Mit Blaum gehe ich in ein argentinisches Restaurant.
    Sein Meerblick ist unruhig beim Studieren der Karte. Seine Schultern entspannen sich nicht. Er seufzt es bald heraus. Dass er mit der Doktorandin geschlafen habe. Dass sie schwanger sei. Er werde sie heiraten. Es sei das Beste für das Kind. Seine Stierstirn sinkt ein Stück herab. Einmal nicht aufgepasst, einmal Schicksalsroulette gespielt, lacht er, aber das Lachen versiegt als tonloser Atemstoß. Ein paar Sekunden lang glaube ich, Tränen in seinen Augen blitzen zu sehen. Plötzlich lächelt er. Ich war immer einsam, weißt du, bringt er heraus. Wenigstens das ist jetzt vorbei. Sein Blick sucht meinen, Zuversicht, Zärtlichkeit. Wir essen kaum etwas. Zum Abschied küsst er mich. Seine Hände sind kalt und halten mich fest, als wollte er mich wegtragen, hinüber in die Weststadt, die Treppen zu seinen Ledersofas hoch, oder noch viel weiter weg, ans Meer, in die Dünen.
    Ich strauchle durch die Nacht nach Hause. Habe längst nicht alles verarbeitet, was ich gehört habe. Rutsche auf den Briefstapeln auf der Schwelle meiner Zimmertür aus. Schlage mir die Elle wund. Wieder und wieder fingere ich die Begleitung zu einem neuen Song durch. Es klingt noch nicht, wie ich will. Ich blicke aus dem Fenster und sehe die kahlen Baumgerippe. Sehe Geister, sehe Dampf, der aus den Bädern des Nachbarhauses steigt. Sehe den ersten Schnee.
    Am Morgen liegt die Stadt unter einer handbreiten Schneedecke. Ich falte meinen aus vier karierten Blättern Papier zusammengeklebten Kalender auseinander. In den zwölf Spalten für die Monate, die wiederum in Tage unterteilt sind, suche ich die sechzehn Kästchen, die vier Quadratzentimeter, die den heutigen Tag bedeuten. Unten im rechten Eck steht Café La Marelle, eine Uhrzeit und dein Name.
    Ich betrete den Tag in einer viel zu leichten Jacke. Auch meine Schuhe sind nicht für den Schnee gemacht. In Gedanken bin ich bei Blaum und seiner schwangeren Doktorandin. Immerhin habe ich an meine bunt geringelten Handschuhe gedacht. Die Dächer funkeln im Licht einer tiefstehenden Sonne. Weil ich zu früh dran bin, gehe ich von meinem Weg zur Haltestelle ab. Drehe eine Runde durch den Park. Ich stapfe mitten über eine Wiese. Halte eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Himmel. Statt hungriger Vögel fliegen mir Melodiefetzen, Refrainteile, Strophen, Zeilen zu. Dass sie immer in Schwärmen kommen müssen, in Hundertschaften, mehr, als ich jemals einfangen könnte. Sie fallen über mich her, fressen mir Blaums Meeraugen und gepflegte Schreibtischhände aus dem Kopf. Ein paar Ideen kritzle ich hastig in mein Notizbuch. Den Rest schleudere ich mit den Sonnenblumenkernen davon.
    Schließlich nehme ich die Stadtbahn, unweit der Oper steige ich aus. Vom Himmel rieseln jetzt wieder vereinzelte Flocken. Auf der Handschuhwolle fange und betrachte ich die winzigen Wunder. Keins der Schneekristalle ist wie das andere. Aber nach wenigen Sekunden schmilzt meine Körperwärme sie alle.
    Bald wird es wieder dunkel. Die Jugendstillampen im La Marelle sind bereits am Nachmittag an. Ich suche einen Tisch im hinteren Viertel des Cafés aus und lasse mich auf eine samtüberzogene Bank fallen. Ein Kellner geht herum und zündet Kerzen an. Du kommst nur wenige Minuten nach mir. Von deinen Wangen strahlt ein helles Karmesinrot, als glimme deine Haut von innen heraus. Die Flocken, die in deinem Haar hängen, verwandeln sich binnen kurzer Zeit in glitzernde Tropfen, du siehst aus wie ein taugekrönter Puck. Ich gebe mich als Elfenschwesterchen, ziehe die Beine aus den schneefeuchten Stiefeln und schlage sie unter. Mein Zeigefinger wandert über meine kalten Sohlen. Spielt an einem Brandloch im Samt der Bank.
    »Du hattest übrigens recht«, sagst du, »wir müssen ans Meer.«
    Ich ertaste die angesammelten Krümel und Zuckerkristalle in dem Brandloch. Rieche den Rum in deinem Kaffee Kopenhagen. Nehme alles Mögliche wahr, bevor ich realisiere, dass du auf mein Fiebergerede anspielst. Ich hatte es beinahe vergessen.
    »Den Atlantik habe ich nie gesehen«, sagst du, »immer nur die Ostsee. Zweimal
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