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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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Mittelmeer. Und damals war ich noch ein Kind.«
    »Für die Atlantikküste ist es doch viel zu kalt«, sage ich, immer noch nicht sicher, dich richtig verstanden zu haben, »und in zwei Wochen geh ich mit dem Bassmann auf Tour.«
    »Fahren wir einfach im Frühjahr hin. Nächstes Jahr. Ich hätte Lust auf einen Roadtrip«, sagst du.
    Du siehst mich fragend an. Ich nicke: Okay. Die indische Teemischung schießt mir in die Glieder. Die Anissüße macht sich im Rücken breit, Zimt und Kardamom kribbeln auf den Fußsohlen, und der schwarze Pfeffer steigt mir in die Nase. Alle Stellen, an denen ich vorher fror, beginnen vor Wärme zu pulsieren.
    Als wir wieder hinauskommen, haben die zum Leeren an die Straße gestellten Mülltonnen hohe Schneezylinder auf. Wir nehmen nicht die Stadtbahn. Wir gehen zu Fuß zu dir. Meine Zähne werden kalt vom Lächeln. Wenn ich die Lippen fest verschließe, ist es, als hätte ich eine eisige Perlenkette im Mund. Meine Füße dagegen sind so warm, dass ich trotz der feuchten Stiefel einen Umweg vorschlage. Bei einer der Kirchen haben sie ein Kinderkarussell aufgestellt und ein paar Stände, die Waffeln, Glühwein und Ähnliches verkaufen. Die Betreiber schließen gerade, knöpfen wetterfeste Planen über ihren Geschäften zu. Aber es hängt noch der Duft von gebrannten Mandeln und parfümierten Frauen in der Luft, mischt sich mit dem kristallinen Geruch des Neuschnees.
    Die halbe Nacht lang schneit es weiter. Ich öffne das Fenster, damit die pulvrigen Flocken hereinwehen und auf unserer Haut verglühen.

Dachlawinen
    Am nächsten Morgen kommt die Sonne heraus. Scheint mit ihrer ganzen Kraft. Es gibt ein paar Dachlawinen, und zum Frühstück Orangengelee und geröstetes Brot. Während ich meinen Kaffee schlürfe, Ingwersirup hineinträufle, erzähle ich dir, dass mir der Bassmann seinen Kleinbus leihen wird. Eine deiner Augenbrauen zuckt nach oben.
    »Wo willst du denn diesmal hin?«
    »Ich muss raus in einen Vorort. Habe dir doch von der Fotografin erzählt. Die die Portraitserie machen will. Die kennt da draußen einen Villenbesitzer und möchte sich das Schlösschen mal ansehen, ob die Suiten und Tapeten als Hintergrund taugen. Ich darf mitkommen und es mir anschauen.«
    Deine Rabenbraue sinkt langsam wieder nach unten. Du greifst nach der Butter, greifst daneben, mitten in den Kerrygoldklotz, weil du mir unverwandt in die Augen gesehen hast. Ich kichere wie ein Kind, während du das gelbe Fett von deinen Fingern leckst. Mein Herz schlägt schnell. Ich bin gespannt, wann es mir endgültig davonhüpfen wird.
    Ich mache mich auf den Weg, bin spät dran und befreie das Mobil des Bassmanns nur halb vom Schnee. Wenigstens die Scheiben sind frei und der größte Teil der Motorhaube. Erst macht das Gefährt unwillige Geräusche beim Fahren. Aber seine Hubraumgeister wachen auf, als ich es auf die Schnellstraße nordwärts lenke. Ich schiebe das Mixtape, das ich dir geklaut habe, in den Audioschlitz. Bald ist das Innere des Vans sauber ausgefüllt, prall von Musik, die Bässe sind vibrierende Stahlträger, die Melodien patchworkbunt, dazwischen azurblaue Perkussionsfunken. Über den Wagen vor mir fliegen feine Tröpfchen bis auf meine Windschutzscheibe. Der Geruch von Frostschutzmittel dringt zu mir herein.
    Plötzlich sprengt die Schneeplatte vom Dach des Vans. Eisiges Pulver fliegt mit einem Krachen in die Luft. Mein Erschrecken dauert nicht lang. Hinter mir steigt glänzender Staub hoch auf ins Sonnenlicht, füllt meinen Rückspiegel mit flirrendem Nebel, ein Wirbel aus Silber und Gold.

Goldflitter
    Wie das Leben weitergehen soll. Butterweich, lippenstiftweich, weich wie der Labello in meiner Hand. Der ist hosentaschenwarm und schmeckt nach Kirsche. Ich drücke mir seine purpurne Glitsche auf die Lippen. Fast macht so viel Geschmeidigkeit mir Angst. Ich würde gern heftiger vermissen, Eifersucht spüren, einen Hauch Vertrautheit mit den Brettern, auf denen ich mich bewege. Da ist nur das Lampenfieber, immer neu, immer packend, und eine verschärfte Empfindlichkeit der Sinne. Ich presse die fettigen Lippen aufeinander, atme das Zwielicht ein und warte, dass die Scheinwerfer aufblenden.
    Überall auf der Bühne klebt rotes Klebeband. Ich bewege mich zwischen diesen Bodenmarken, die bei einer Theateraufführung als Orientierung gedient haben müssen, frei und haltlos. Das leichte Nachgeben des Holzes macht mich schwindlig. Unter meinen Schritten kippelt die Welt, ever so slightly, und jeder
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