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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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Die Schüchternheit der Pflaume
    Du kennst die mehlige Schicht, die eine frische Pflaume hat. Was sie matt macht und blassblau statt dunkel, diese dünne Schicht, dieses Anstandspuder überm tiefen Violett, die Schüchternheit der Pflaume. Wenn du die Pflaume anfasst, reibt sich diese Schicht ab, und die Pflaumenhaut beginnt zu glänzen.
    Eine Tomate essen, auf offener Straße. Wie dich die Passanten ansehen. Weil du beißt, saugst, mit den Lippen, der Zunge das Überfließen des kernigen Safts verhinderst. Tomatenkuss.
    Das saugende Geräusch beim Öffnen einer Kaffeepackung. Die plötzliche Entspannung des Goldpakets, das Weichwerden des Kaffeepulvers, das beim Zusammendrücken das Geräusch von feuchtem Sand macht. Du wirst merken, wie interessant solche Quisquilien sein können.
    Mich begeistern Kleinigkeiten. Das Schöne ist überall, und wichtig. Wer es nicht sieht, geht unter. Zugegeben, wer es sieht, auch. Aber zusammen mit der Schönheit unterzugehen, das ist es, worauf es ankommt.
    Dass ich plötzlich Lust auf Mozarts Requiem habe, lässt mich ein paar Handgriffe tun, da ist es, Musik aus der Dose. Das Stück spült langsam an, quillt herauf, die Stimmen, der Chor, tauchen aus der Tiefe auf, ein Geisterschiff mit zerrissenen Segeln. Dann, sanfte Brise, eine Möwe schreit, singt. Exaudi, exaudi. Der Wind frischt auf, die Segel blähen sich, Sehnsucht, das Totenschiff kommt in Fahrt, mit zehn, zwölf, dreizehn Knoten. Et lux perpetua. Wellen schlagen gegen den in der Sonne gleißenden Rumpf. Die Musik flimmert vor meinem inneren Auge. Dann Filmriss, als das Telefon klingelt. Tastendruck, der Chor hält die Luft an.
    »Hallo?«
    Mir atmet Stille entgegen. Hallo. Drei weitere Sekunden nichts. Der schon wieder, denke ich, mein persönlicher Telefonterrorist.
    Den kenne ich seit einigen Wochen, sofern man bei einem zurückhaltenden Telefonatmer von Kennenlernen sprechen kann. Es ist immer dasselbe, er hört sich meine zwei Hallos an und wartet. Ich habe mir angewöhnt, nicht aufzulegen, ihn eine Weile im Hörer zu behalten, seinem Schweigen aufmerksam zuzuhören, bis er selbst auflegt. Jeden vierten oder fünften Tag zweieinhalb Minuten, so viel Zeit habe ich für den unbekannten Schweiger. Er passt zu meinen gesammelten Sonderlingen, im Tierheim für einsame Wölfe ist noch Platz.
    Aus einer Laune heraus drücke ich erneut die Pausentaste. Der Chor lässt seinem Flehen wieder freien Lauf. Mein Telefonterrorist legt auf, als schließlich Sturm aufkommt. Dies irae. Ich frage mich, ob er mich jetzt für verrückter hält als sich selbst. Ich stelle das Telefon ab und werfe mich aufs Bett. Als Mozart verstummt, rauche ich einen kubanischen Zigarillo, nehme eine meiner Gitarren und spiele fünf Stunden am Stück.
    Indessen dreht die Welt sich weiter. Dinge passieren. In einer anderen Großstadt fliegt eine Bank in die Luft. Es ist unklar, wer dahintersteckt, die Nachrichtenticker erzählen unterschiedliche Geschichten, Terror, Überfall, drei Tote, achtzehn Verletzte, zwei Tote, elf Verletzte. Ich blättere um. Ich klicke weiter. Ich höre nicht zu.
    Borg hat seine Renovierungsarbeiten im Keller abgeschlossen. Es stehen keine schmutzigen Eimer mehr im Flur, der Geruch nach Silikon und Wandfarbe verliert sich langsam. Matti ist es gelungen, die lederne Lora rumzukriegen, die beiden sitzen nun oft aufeinander statt nebeneinander auf der Couch. Blaum veranstaltet eine Cocktailparty in seiner Eichenparkettwohnung, und es ist die erste Party, auf die ich gehe, obwohl ich nur den Gastgeber kenne.
    Ungefähr dreißig Gäste erscheinen. Ich bin die große Unbekannte. Die, um die Blaum seinen Arm legt, wenn er sich für ein paar Minuten ausruhen will. Ein paar Frauen mustern mich, das junge dünne Ding, interessiert, zwei mit giftigem Rivalinnenblick. Ich muss mich beherrschen, nicht hinüberzugehen und den Perlenpaulas zu sagen, dass es von meiner Seite nichts zu befürchten gibt, ich heirate nicht und will auch keine Kinder. Die meiste Zeit aber lustwandle ich allein zwischen den Cocktailgläsern hin und her, lausche Businessgeschichten oder erzähle, auf Wunsch, von meiner Musik. Ich trage das tizianrote Kleid, das ich bei meinem Konzert in Luxemburg anhatte. Viermal sagt man mir, man wolle sich meine Musik unbedingt anhören, werde mein Album kaufen. Aber diese Leute haben keine Zeit für Musik. Sie werden mich vergessen haben, sobald ihr Telefon das nächste Mal klingelt. Auch die zwei Frauen, die mich mustern, als
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