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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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halbieren das verdorrte Krönchen, unten am Apfel, wo früher die Blüte war. Am Rand der Bissstelle bemerke ich einen Flaumbatzen, zerrissen. Er klammert seinen letzten Rest in die Vertiefung der kleinen Krone. Ich habe ein Spinnennest mitgegessen. Dutzende kleiner Babyspinnen, stelle ich mir vor, weiße Winzlinge mit acht Beinen, die meinen Hals hinabzappeln.
    Plötzlich weiß ich es. Dass du tot bist. Die Geisterspinnchen bringen dieses Wissen mit sich, der Geruch der angerissenen Streichhölzer. Du bist nicht mehr in der Großmutterstadt unterwegs. Du bist von der Welt verschwunden. Auch das Sonnenlicht beginnt es zu flüstern. Dass du tot bist. Der Marmor und die bleichen Wände beginnen zu flüstern. Alles flüstert. Dass es wahr ist. Auch die Teppichfransen und die goldrückigen Bücher. In der Ferne klirrt das eisige Lachen der Götter. Sie amüsieren sich. Sie kommen wieder näher, zünden ihre Fackeln an, weiße Fackeln, die nur Licht, aber keine Wärme geben. In meine Augen treten Tränen.
    Der Brandgeruch in der Luft droht mich zu ersticken. Aber meine Kraft reicht nicht, aufzustehen, das Fenster zu öffnen. Wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden gleite ich am Fensterrahmen herab. Ich sacke auf den Rücken, bleibe liegen, ein gekapptes Schneewittchen, der Apfel rollt auf den Boden. Und während in meinem Bauch die Spinnenbabys sterben, rinnen mir links und rechts die Tränen über die Wangen. Sie rinnen ununterbrochen, obwohl meine Augen weit offen sind, obwohl ich nicht schluchze, Geistertränen, rinnen bis in die Ohren. Ich wische die nassen Muscheln aus und lege die feuchten Hände auf die Fensterbank.
    Später schwirrt mir deine Stimme ans Ohr. Unverschämt klar, als wärst du nie tot gewesen, dringt sie aus dem Flur. Ich fliehe aufs Sofa, kauere mich dort zusammen. Lasse sie nicht herein. Ich blende die Stimme aus, bis ich dich nur noch wie durch fest auf die Ohren gepresste Kissen höre. Du bist noch fremd. Du bist noch tot. Selbst als du ins Wohnzimmer geschlendert kommst, zwei braune Papiertüten in den Händen, bist du noch nicht da. Der Schicht, in der mein Herz schlägt, gehörst du noch nicht an. Erst bemerkst du nicht, dass ich nur in meinen Schoß starre. Du redest weiter und weiter. Du fischst Mangos und Trauben aus den Papiertüten. Den Reis bringst du in die Küche. Es ist gut, dass du redest, denke ich. Rede immer weiter. Ich brauche Zeit, um dich zu mir zurückzuholen.
    Mit feuchtem Finger sammle ich einen Apfelkern auf, der noch in meiner Rockfalte hängt. Ich halte mich an der Musik fest. Eine von Bachs Cellosuiten quillt aus dem Radiogerät. Der Cellist entwringt den Saiten brückenlange Strickleitern. Ich greife in die verdrehten Sprossen. In meinem Mund klebt Apfelkerngeschmack.
    Irgendwann bemerkst du, dass ich nicht reagiere. Du lässt dich neben mich aufs Sofa fallen. Das Federn der Polster, das Umfallen des grünen Turbankissens, handfeste Boten deines tatsächlichen Hierseins, bringen wieder Bewegung in mich. Ich reiße meinen Blick aus der Versenkung los. Er trifft auf besorgte Stirnfalten, ein Prinzgesicht voller Kaffeelikörfragen. Meine Hände lockern ihren Griff. Dein Mandelgeruch tut ein Übriges. Aus den Cellosprossen gleite ich zurück auf einen ungewissen Boden. Umarme dich. Fange wieder zu weinen an.
    Ich werde nie wieder ganz sicher sein können, denke ich. Ob du mir wirklich gegenübersitzt, wenn du von Monitorgrößen oder Neurofunk sprichst, wenn dein Blick in meinen gleitet. Ob deine großen Schuhe wirklich neben mir hertappen, wenn ich deine Schritte höre. Ob du wirklich hinter mir bist, wenn deine Hand an meine Kehle greift, wenn dein Atem sich beschleunigt. Oder ob du längst ein Gespenst bist. Ein schwarzer Schattenprinz, der sich jederzeit in einen Raben verwandeln könnte, auffliegen, auf Nimmerwiedersehen, nevermore.

Atlantikgrau
    Ob vielleicht mein Fieber schuld war an deinem Tod, frage ich mich, ein Fieber, das sich gegen Abend auswächst, das altmodische Quecksilber meiner Großmutter steigen lässt, neununddreißig, neununddreißig fünf. Wie heißer Kleister rinnt mir die Nacht ins Hirn. Gedanken gleiten darin aus, schlittern die Schräge meiner Denkräume hinunter und bleiben irgendwo in wilden Büscheln kleben.
    Die Matratzen der zwei zusammengeschobenen Gästebetten sind nicht auf selber Höhe. Wenn ich die Augen öffne, sehe ich dein Gesicht, zehn Zentimeter tiefer liegend als meins. Die Schatten deines Bartwuchses sehen im Zwielicht noch
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