Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
Brandung. Das Meer ist viel zu nah.
    Irgendwann kommst du wieder an mein Bett.
    »Wir müssen ans Ende dieses Kontinents«, sage ich.
    »Was? Was murmelst du da?«
    »Wir müssen an den Atlantik«, sage ich.
    Du bettest dich neben mich. Rückst dicht an meine Matratze heran. Schiebst ein Kissen unter deinen Kopf, so dass deine Nasenspitze nicht mehr zehn Zentimeter unter meiner liegt, sondern sie fast berührt. Du siehst mir in die Augen. Erst einige Sekunden später bin ich über meine eigenen Worte verdutzt. Ich habe mit dir geredet wie im Traum. Verwundert rapple ich mich auf. Ich erinnere mich an tiefes Tintenblau und den Sturzflug einer Möwe. Sonst an nichts.
    Du nimmst mich genau in Augenschein, überprüfst meine geschundene Haut, die verheilenden Spuren des Gorillaüberfalls, fragst mich, ob es noch wehtut. Du runzelst betroffen die Stirn, als du eine neue blutig geschlagene Stelle am Knie entdeckst. Ich bin zu schwach, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, zu schwach, dich anzuschweigen. In wenigen Worten erzähle ich dir die Geschichte des kleinen Mädchens, das morgens verkehrt herum, mit Gartenerde und Bausand an den Füßen im Bett erwachte, die Geschichte des Schlafwandlerkindes. Solche Kratzer sind die Ausnahme, verteidige ich mich. Das ist nur passiert, weil ich so krank bin.
    Ich ziehe mir das schweißnasse Nachthemd über die Ohren und hänge es an eine Stuhllehne. Lasse meine Haut trocknen. Du betrachtest mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Sorge. Um deine Mundwinkel spielt noch eine andere Emotion, die ich kaum zu deuten weiß, etwas Hartes, Gnadenloses.
    Bevor ich zurück in die Federn krieche, fröstelnd, drehe ich die Bettdecke um. Der kühle Stoff, der außen war, jetzt innen ist, nimmt langsam die Wärme meines Körpers an. Du sagst, ich solle mich umdrehen. Du streichelst meinen Rücken. Gänsehautwolken schwärmen an meiner Wirbelsäule auf und ab, immer deiner Hand nach. Manchmal lässt du mich deine Fingernägel spüren.
    Irgendwann bleibt deine Hand liegen. Ein Sonnenstrahl und dein ruhiger werdender Atem wärmen meinen Nacken. Ich rutsche rückwärts, dem Sonnenstrahl entgegen, bis ich deinen Körper fühlen kann. Du wirst wieder gehen. Wirst die kantigen achtzig Kilogramm, gegen die ich meinen Rücken lehne, wieder mitnehmen. Wirst auch den vertrauten Geruch nicht zurücklassen. Du wirst dich damit unter Menschen mischen, mit ihnen lachen und Fingerfood essen und Whisky trinken. Aber vielleicht, bevor du gehst, werde ich dieses seetangfarbene Hemd noch einmal aufknöpfen. Du wirst das Atlantikgrau sein und ich das Erdinnenrot.
    Dann werde ich drei Tage durchschlafen. Traumlimbo tanzen. Fieberfechten. Gesund werden.

Zuckerkristalle
    Mit welch blindem Vertrauen wir die nächtliche Autobahn entlangstürzen. Hundertfünfzig, und das Frontlicht erhellt gerade die nächsten drei Mittelstreifen. Dahinter ist es gleichmäßig schwarz, dort könnte alles sein. Wir zählen darauf, dass die Straße einfach weitergeht, potteben, schnurgerade, asphaltglatt. Wer irgendwo hinkommen möchte, vertraut auf den Takt der Reflektoren, hat keine andere Wahl.
    Du friemelst einen Datenstick ans Autoradio. Eines deiner Mixtapes füllt das Wageninnere. Hin und wieder kommentiere ich einen Track. Quassle ein bisschen zu viel dazwischen aus lauter Seligkeit, dass ich gesund bin, dass meine Stimme wieder wie meine Stimme klingt. Knappe zwei Wochen bin ich krank gewesen. Ich hatte nicht erwartet, dass du mich bei meiner Großmutter abholst, hatte bereits meine Sachen für die Zugfahrt verschnürt. Da klingelte das Telefon, und eine Stunde später warst du da.
    Ein neuer Song baut seine Rhythmen, Soundschichten und Basslinien auf. Meine Beine wippen im Takt. Ich will sie gar nicht stillhalten, nach all dem Liegen und Schlafen hat mich eine Woge überschießender Energie gepackt. Das ist auch der Grund, warum ich heute Nacht noch zurück in die Goldlaube will. Du hättest noch einmal bei meiner Großmutter übernachtet. Aber ich muss zurück in die Großstadt. Muss ihre Stadtbahnen unter mir durchrauschen, ihre Menschenmassen über mir zusammenschwappen fühlen, muss ihren Dreck riechen und das Lichtermeer sehen.
    Ich hätte nicht gedacht, dass es fast drei Wochen dauert, bis ich alle verpassten Termine nachgeholt, alles Liegengebliebene erledigt habe. Aber ich verschätze mich oft in der Zeit, halte die Welt, und insbesondere mich, für schneller und effektiver, als sie wirklich ist. Nach den drei Wochen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher