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Licht über den Klippen

Licht über den Klippen

Titel: Licht über den Klippen
Autoren: Susanna Kearsley
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EINS

    I ch verlor meine
einzige Schwester Ende November.
    Diese Jahreszeit so kurz vor dem Winter, wenn die
Dunkelheit immer früher hereinbricht und der Himmel kalte Tränen weint, ist
wohl die schrecklichste, um einen Menschen zu verlieren. Nicht dass es einen
guten Zeitpunkt für den Tod der besten Freundin gäbe, aber es erscheint einem
doch schlimmer, in dem Krankenhauszimmer, in dem die Spezialisten in ihren
weißen Kitteln ein und aus gehen, zu sitzen und aus dem Fenster nur auf dichte
graue Wolken zu schauen, die jegliche Wärme und Hoffnung sofort ersticken. Zu
Beginn ihrer Krankheit waren wir manchmal hinaus in den Garten gegangen und
hatten auf der Bank neben dem Sommerflieder schweigend die Strahlen der Sonne
auf unseren Gesichtern genossen und die tanzenden Schmetterlinge beobachtet.
    Damals war diese Krankheit harmlos und überwindbar erschienen, wie
alles, was das Schicksal ihr bis dahin beschert hatte. Sie war bekannt für ihre
Energie. Die Regisseure besetzten sie für Rollen in Actionfilmen, die sie mit
dem für sie typischen Eifer verkörperte, und die Zuschauer liebten sie dafür.
Die Reporter der Klatschpresse hatten sich den ganzen Sommer über vor dem Haus
herumgetrieben, und als sie schließlich in die Klinik musste, verfolgten sie
sie auch dorthin und postierten sich vor dem Haupteingang.
    Doch am Ende waren nur wir drei im Zimmer: ich, meine Schwester
Katrina und ihr Mann Bill.
    Wir hielten ihre Hände, Bill und ich, den Blick auf ihr Gesicht
gerichtet, weil wir es nicht schafften, einander anzusehen. Und schließlich
waren wir nur noch zu zweit, Bill und ich. Ich konnte ihre Hand nicht
loslassen, wollte nicht glauben, dass es zu Ende war. Ich saß stumm da, bis
Bill aufstand und Katrinas Hand auf ihre Brust legte. Er drückte ihre Hand ein
letztes Mal sanft, bevor er den kleinen Claddagh-Ring aus Gold, der unserer
Mutter gehört hatte, von ihrem Finger zog und mir gab.
    Er reichte ihn mir wortlos, und noch immer waren wir nicht in der
Lage, einander in die Augen zu sehen. Dann tastete er in seiner Tasche nach
seinen Zigaretten und verließ das Zimmer. Und ich war allein. Ganz allein.
    Der kalte Novemberregen rann am Fenster herab und warf Schatten in
den lichtlosen Raum.
    Ich half, die Trauerfeier zu organisieren, sorgte dafür, dass ihre
Lieblingslieder gesungen und ihre Lieblingsgedichte vorgelesen wurden, aber als
Freunde und Fans ihr das letzte Geleit gaben, war ich nicht dort, um ihnen die
Hand zu geben und ihre wohlgemeinten Worte des Trostes zu hören. Ich weiß, dass
manche mich deswegen für feige hielten, doch ich konnte es einfach nicht. Meine
Trauer war etwas sehr Privates und ging zu tief, um sie zu teilen. Außerdem war
es nicht von Bedeutung, ob ich mich in der Kirche aufhielt, weil Katrina sich
nicht dort befand.
    Sie war nirgendwo.
    Ich konnte nicht fassen, dass ein so starkes Licht wie das ihre so
vollständig ausgelöscht worden war, ohne den geringsten Schimmer
zurückzulassen. Ich hatte gedacht, ich würde ihre Gegenwart spüren … doch das
tat ich nicht.
    Um den Schmetterlingsflieder im Garten lag Laub, und um die Veranda
mit der leeren Schaukel standen kahle Sträucher. Als ich Katrinas Schränke ausräumte,
spürte ich nicht den leisesten Lufthauch, der mich hätte glauben machen können,
dass meine Schwester noch bei mir war.
    Ich erledigte, was zu erledigen war, kümmerte mich um die kleinen
Dinge und versuchte, mein Leben weiterzuführen, wie alle es mir rieten, obwohl
eine große, hohle Einsamkeit in mir wuchs. Dann kam der Frühling und mit ihm
Bill. Eines Samstagmorgens stand er vor meiner Tür. Mit ihrer Urne in der Hand.
    Ich hatte ihn seit November nicht mehr gesehen, nur ein paar Mal im
Fernsehen, weil gerade ein neuer Film mit ihm angelaufen war.
    Bill blieb auf der Schwelle stehen und räusperte sich. »Ich dachte
…« Kurzes Schweigen. Er drückte das schlichte Eichenholzkästchen mit Katrinas
Asche fester gegen seinen Körper. »Sie wollte, dass ich sie verstreue.«
    »Ich weiß.«
    »Keine Ahnung, wo ich sie hinbringen soll. Vielleicht …« Er hielt
mir das Kästchen hin. »Ich dachte, du kannst das besser.«
    Zum ersten Mal seit ihrem Tod blickten wir einander an. Ich sah den
Schmerz in seinen Augen. Er hüstelte. »Ich muss nicht dabei sein, wenn du es
machst; ich habe mich von ihr verabschiedet. Du weißt besser als ich, wo sie am
glücklichsten war. Wo sie hingehört.«
    Er drückte mir das Kästchen in die Hand und küsste mich auf die
Stirn,
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