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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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Schlaf, denke ich, ist eine Reise. Ich bin auf den morschesten Brettern der Stadt gelandet. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.
    Irgendwo da unten ist auch Damla. Im Halbdunkel suche ich den hellen Fleck ihres Gesichts, den schwarzen Schatten deines Schopfes. Ich finde euch in der Nähe der linken Wand. Du lehnst an einem Deckenpfeiler, in der Brusttasche deines Hemds stecken die pinkfarbenen Papierchen und leuchten bis zu mir herauf. Ein heißer Stich steigt in meiner Brust nach oben, explodiert wie ein Feuerwerk, wirft bunte Schweife in alle Richtungen, ich staune. Fast wünschte ich, dass auch Blaum und seine Doktorandin da wären. Ich will noch mehr Buntes, mehr Licht, mehr Feuerwerk in mir.
    Plötzlich stechen mir die aufstrahlenden Scheinwerfer in die Augen. Ich erschrecke, dass der Lichttechniker sie alle voll hochgefahren hat, senke den Kopf, schubse ein Kabel nach links, justiere den Gitarrengurt. Ich blinzle zum Bassmann. Er zuckt mit den Schultern, egal. Ich verfolge das heftige Beschleunigen meines Herzschlags, wie jedes Mal, wenn ein Konzert beginnt. Staub hängt als Goldnebel in der überstrahlten Bühnenluft.
    Ich hebe meinen Blick in das weiße Gleißen. Hier, im Rampenlicht, sind meine Augen ohnehin nicht dazu da, zu sehen, denke ich. Sie müssen nur leuchten. Ich friere meine Bewegung ein, starre auf einen fixen Punkt in der atmenden Dunkelheit. Ich lasse einige Sekunden vergehen. Die Leute werden stiller und stiller. Ich kann fühlen, wie sich ein elektrostatisches Potential aufbaut, zwischen Rampe und Zuschauerraum, zwischen meiner Bühnenblindheit und dem gespannten Lauschen dort unten. Ich lasse ein paar weitere Sekunden verstreichen.
    Die Entladung beginnt mit einem zarten Raspeln, mit meiner Stimme, mit dem Geknister der elektronischen Zuspielungen. Der Bassmann atmet ein paarmal heftig aus und ein. Ich stemme mich auf die Zehenspitzen. Etwas von dem roten Klebeband bleibt an meinen Sohlen haften. Heute Nacht, denke ich, will ich einer der Menschen sein, die die Welt zusammenhalten, will Netze weben, die man um zusammenbrechende Hochhäuser legen kann, Seile drehen, die die verkohlten Trümmer der Welt am Stürzen hindern, will Leitern und Brücken bauen, will die Abgründe mit Akebie, Feuerdorn und Weinreben bepflanzen. Als ich mich wieder auf die Fersen fallen lasse, bebt die Bühne, schlägt der Bass zu. Mein Atem steigt in Quarten auf und ab.
    Im Lauf des zweiten Songs blendet der Lichttechniker die Hauptscheinwerfer etwas ab. Vielleicht hat er bemerkt, dass meine Musik nicht fürs blanke Flutlicht gemacht ist. Im dritten Song, im Halblicht, blüht meine Musik auf, der Saal erwacht. Im vierten Song brauche ich die Gitarre nicht, lehne sie an das abgestoßene Klavier, das im Hintergrund der Bühne steht. Mit seinem Gewicht bricht es fast durch den Bretterboden.
    Ich nehme das Mikro aus seiner Halterung. Trete vor bis an die Rampe. Das Fußlicht besteht aus einer langen Reihe verschiedenfarbiger Glühbirnen. Mal gehen die weißen, mal die gelben, mal eine Mischung aus den roten und den blauen Lampen an. Gegen Tritte sind sie mit einem dünnen Metallgitter abgeschirmt, das an vielen Stellen bereits verbogen oder aus der Halterung gerissen ist. Ich trete vor, bis meine Fußspitzen dieses Gitter berühren. Eine markige Hitze steigt von den Glühbirnen auf. Sie erzeugen einen seltsamen Aufwind. Eine Haarsträhne tanzt vor meinem Gesicht hin und her, züngelt im Gegenlicht, als wäre sie ein eigenständiges Wesen.
    Jemand anders könnte an meiner Stelle sein, denke ich. Dass ich hier stehe, und nicht eine junge Schönheit, lange Wimpern, Seidenblüte im Haar, ist reiner Zufall. Dass es meine Musik ist, die heute Nacht über die Köpfe wäscht, und nicht die Lieder einer Virtuosin von der Musikhochschule, die weltläufiger, salonfähiger ist als ich. Ans Schicksal glaube ich nicht. Wir alle könnten jemand anders sein. Vielleicht spielen deshalb die Leute ihre Rolle, ihre Musik mit solcher Inbrunst. Menschen wie den Bassmann oder Nestor, diese scheinbar unverwechselbaren Originale, gibt es nur deshalb, weil sie genau wissen, dass es gleichgültig ist, ob sie spielen oder nicht. Sie wissen, dass immer irgendwer da sein wird, immer irgendwer spielt, die Leere füllt, wenn sie gehen. Oder nie da gewesen wären. Sie versuchen, wie ich, besonders eindrucksvoll zu spielen, todgeweihte Vögel, gegen die eigene Nichtigkeit ansingend. Der ständige Wettstreit mit der Perfektion der Götter. Den wir
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