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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Autoren: Jan Beinßen
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einem Anflug von Misstrauen.
    »Ich denke, das kann dir dein junger Freund hier am besten erklären«, sagte Pfarrer Hertel. Jedes seiner Worte klang in Pauls Ohren wie eine Drohung.
    »Paul?« Fink tauchte unter einem Querbalken hindurch und kam auf Paul zu. »Was hat das zu bedeuten? Warum seht ihr beiden euch so an?«
    Paul war in eine Situation geraten, die er nicht vorhergesehen und ganz sicher nicht so geplant hatte. Wenn er jetzt einen Fehler beging, konnte es nicht nur für ihn gefährlich werden: Auch Fink schwebte in Gefahr!
    »Ich denke, Pfarrer Hertel will uns zu verstehen geben, dass er viel für die Kirche getan hat, nun aber Schluss damit sein muss«, sagte Paul vorsichtig.
    Er suchte in Hertels Gesicht nach einer Reaktion, aber der Pfarrer zuckte nicht einmal mit der Wimper.
    »Warum betonst du so, dass gerade jetzt Schluss sein muss?«, fragte Fink mit aufkeimender Ungeduld. »Weshalb ausgerechnet nach dem Franziskanerhof-Vertrag?«
    »Weil . . .«, Paul nahm all seinen Mut zusammen, »weil Pfarrer Hertel bei seinen Geldgeschäften für die Kirche vor vielen Jahren einen Fehler beging, der ihn vor kurzem wieder eingeholt hat.«
    »Einen Fehler?« Fink wich die Röte aus seinem Gesicht. Er baute sich vor seinem Kollegen auf. »Was hat das zu bedeuten, Gottfried? Wovon spricht Paul?«
    Nachdem Pfarrer Hertel keine Anstalten machte, Fink zu antworten, ergriff Paul wieder das Wort: »Ich denke, ich liege richtig, wenn ich behaupte, dass Pfarrer Hertel schon in seinen ersten Jahren als Geistlicher ein sehr ehrgeiziger Mann war. Uneigennützig zwar, weil er seinen Ehrgeiz von Anfang an in den Dienst der Kirche stellte – dennoch war sein Drang zum Fortschritt stets mit einer unterschwelligen Skrupellosigkeit gekoppelt.« Paul biss sich auf die Lippen. War er jetzt zu weit gegangen?
    Hertels Haltung veränderte sich nicht, als er langsam und tonlos zu reden begann: »Sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, wie es in Nürnberg 1945 ausgesehen hat. Sie mögen vielleicht die Fotos und Zeichnungen kennen, die unsere zerbombte Stadt zeigen, aber diese Bilder geben nicht im Entferntesten das gesamte Ausmaß der Zerstörung wieder. – Sie haben ganz recht: Ich war jung, und ich war ehrgeizig. Vor allem aber war ich mehr als entschlossen, unsere Kirchen nicht dem Untergang preiszugeben. Es war meine Mission, für ihren Wiederaufbau zu sorgen. Die Kraft unserer Gemeinden zu bündeln und die Spuren des Krieges zu tilgen.«
    »Erzählen Sie uns etwas über den Tod von Herrn Henlein«, wagte sich Paul weiter vor.
    »Nein«, sagte Hertel mit Groll in der Stimme, »ich werde Ihnen nicht von seinem Tod, sondern von seinem Leben erzählen!«
    Paul suchte den Blickkontakt zu Fink, doch dieser hing wie gebannt an Hertels Lippen.
    »In der Nacht des 2. Januar 1945 war ich auf den Straßen Nürnbergs unterwegs«, sprach Hertel, »als die Bomben fielen und unsere Stadt lichterloh brannte. Doch nicht nur die Flammen verbreiteten sich in diesen schrecklichen Stunden schnell, sondern auch die Nachrichten. So erfuhr ich von dem Volltreffer auf den Familiensitz der von Buchenbühls. Ich fuhr mit einem Fahrrad, das ich am Straßenrand liegen gesehen hatte, zur Villa der Familie und war entsetzt. Die Meldung hatte tatsächlich gestimmt: ein Volltreffer! Das stolze Haus war vollkommen zerbombt worden. Nichts war mehr übrig geblieben. Auf den schwarz verkohlten Resten glommen noch Flammen.«
    Über die Augen des Altpfarrers legte sich ein Schleier der ehrlichen Trauer. Langsam senkten sich seine Schulterblätter, und er gab seine starre Haltung auf. »Ich suchte in den Trümmern nach Überlebenden, doch ich fand nur Tote. Das heißt: Teile von ihnen. Grotesk entstellte Körper. Abgetrennte Arme, Beine. Die Körper derjenigen, die im Bunker geblieben waren, waren durch die große Hitze bis auf Puppengröße geschrumpft. Es war furchtbar . . . Dann – ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben – sah ich einen kleinen Jungen in zerrissener Kleidung auf einem Mauervorsprung sitzen. Er hielt einen Teddybären ohne Kopf an sich gepresst. Mit seiner freien Hand umklammerte er einen Kettenanhänger, ein Medaillon.«
    »Henlein«, stammelte Fink.
    »Das ist richtig, mein lieber Hannes«, bestätigte Hertel. »Der Junge war verletzt. Ich habe mich seiner angenommen und ihn ins nächste Lazarett gebracht. Er war völlig verwirrt und stand unter Schock. Ich habe meine ganze Willenskraft aufgebracht, um ihn wieder aufzubauen. Gemeinsam
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