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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Autoren: Jan Beinßen
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fragte er.
    Paul sah näher hin. Sofort erkannte er den Anhänger am Ende der Kette: das Medaillon!
    »Sie können es gerne haben«, rief Hertel. Mit diesen Worten schleuderte er die Kette über Pauls Kopf hinweg ins Gebälk.
    Irritiert sah Paul hinterher. Ein Fehler, den Hertel nutzte, um sich um die eigene Achse zu drehen.
    Paul bekam gerade noch mit, wie der Pfarrer dem völlig überrumpelten Fink einen heftigen Stoß versetzte und sich dann an ihm vorbei den Weg zum anderen Ende des Glockenturms bahnte. Hertel war schnell, sogar verdammt schnell für sein Alter! Paul überwand seine Verblüffung und rannte dem Pfarrer nach. Er duckte sich unter die zahllosen Quer – und Längsstreben hindurch und holte rasch auf.
    Von der anderen Seite versuchte jetzt auch Fink, seinem Kollegen den Weg abzuschneiden.
    Der Glockenstuhl war eng und bot nur wenig Möglichkeiten, einander auszuweichen – diesen Umstand wollte sich Paul zunutze machen: Durch geschickte Richtungswechsel irritierte er Hertel. Es gelang ihm, den Fliehenden vom Treppenhaus fernzuhalten.
    Hertel blieb schnaubend stehen. Er funkelte Paul böse an. »Dann eben anders«, sagte er und drehte sich um. Mit wenigen entschlossenen Schritten trat er auf eines der hoch aufragenden Schalllöcher zu. Ein Windstoß erfasste seinen Talar und blähte ihn auf.
    »Mach keinen Unsinn, Gottfried!«, brüllte Fink. »Willst du etwa noch eine Sünde begehen?«
    »Nein«, schrie Hertel zurück, der jetzt in dem schmalen Schallloch stand. Seine weißen Haare wurden vom Wind zerzaust. »Ich will, dass ihr mich in Frieden lasst! Haut ab, dann wird weder mir noch euch etwas passieren!«
    »Aber irgendwann müssen Sie den Turm verlassen«, rief Paul. »Es ist zu Ende, Hertel. Sehen Sie es doch ein! Zögern Sie es nicht unnötig hinaus!«
    »Ich zähle bis zehn«, warnte Hertel. »Und wenn ihr dann nicht verschwunden seid. . .«
    Plötzlich fegte eine deutlich stärkere Windböe durch das Glockenhaus. Paul spürte, wie der Wind um die Balken pfiff und an seinen Hosenbeinen zerrte und zog.
    Dann – es geschah in Sekundenbruchteilen – erreichte die Böe Hertel. Der Talar nutzte den Wind wie ein Segel. Im selben Moment verlor der Pfarrer das Gleichgewicht. Seine Beine knickten ein, und die Hände lösten sich von der Ummauerung des Fensters. Mit einem lauten Aufschrei stürzte der Pfarrer in die Tiefe.
    So schnell sie konnten rannten Paul und Fink zu dem Schallloch und starrten durch die schmale Öffnung nach unten.
    Hertel war tatsächlich gefallen – wenn auch nicht tief. Fassungslos sah Paul, dass der Pfarrer etwa fünf Meter unter ihnen einen Mauervorsprung zu fassen bekommen hatte. Verzweifelt versuchte er, seinen schweren Körper hochzuhieven.
    »Gottfried!«, rief Fink. »Halte durch! Wir holen Hilfe!«
    Doch Fink musste – genau wie Paul – klar sein, dass es dafür bereits zu spät war. Hertel blieben nur noch wenige Augenblicke. Dann würden seine Kräfte nachlassen und er würde abstürzen. Diesmal den ganzen langen Weg bis zum bitteren Ende, in den Tod.
    »Gott hat das Leben gegeben«, hörten sie Hertel noch rufen, »und Gott wird es nehmen.« Dann war es still.

Epilog
    Unterwäsche, Socken, Zahnpasta und Rasierzeug. Eine Badehose? Nun, vielleicht hatten sie in Berlin ja ganz nette Bäder? Und seine Joggingschuhe, sollte er die auch mitnehmen?
    Grübelnd stand Paul in seinem Atelier, über seinen verschlissenen alten Lederkoffer gebeugt. »Was soll’s«, sagte er dann zu sich selbst. »Es sind ja nur ein paar Tage – da will ich es nicht übertreiben.« Er packte die Badehose wieder aus, und auch die Joggingschuhe würde er dort lassen, wo sie waren: Im Flur neben der Garderobe waren sie gut aufgehoben.
    Über Katinkas Einladung, sie am Wochenende zu besuchen und ihre neue Bleibe zu bewundern, hatte er sich gefreut. Heute war Freitag, seine Reise stand unmittelbar bevor. Er würde die Fahrt mit gemischten Gefühlen antreten, denn selbst nach Katinkas Abflug aus Nürnberg war zwischen ihnen vieles unausgesprochen geblieben.
    Vielleicht würde ihm der Abstand tatsächlich gut tun: In Berlin, weit weg von Freunden und vertrautem Umfeld, aber auch von den alltäglichen Problemen und Sorgen, würde er mit Katinka in aller Ruhe über alles reden können. Für ein paar Tage würden sie ganz für sich allein sein. Die Chance wollte Paul nutzen. Er hatte sich fest vorgenommen, Katinka gegenüber offen und fair zu sein. Keine Ausreden mehr und keine
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