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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Autoren: Jan Beinßen
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Ausflüchte!
    Beiläufig fiel sein Blick auf einen aufgerissenen Briefumschlag, aus dem die Ecke eines gefalteten Papierbogens lugte. Schlagartig kehrten seine Gedanken von Berlin nach Nürnberg zurück, als er den Bogen aus dem Kuvert zog. Seltsam, dachte er und studierte nachdenklich die Zeilen.
    Es handelte sich um eine Kopie aus dem schriftlichen Nachlass von Franz Henlein. Es erschien Paul bitter ironisch, dass ausgerechnet Henleins Witwe ihm diese Kopie aus der Haft hatte zukommen lassen. Aus Pauls Sicht war dies der ungelenke Versuch einer Wiedergutmachung.
    Henleins Aufzeichnungen, die Paul nun bereits zum wiederholten Mal las, beinhalteten dessen ganz persönliche Theorie über Hausers Lebensweg:
    Henlein war davon überzeugt gewesen, dass es sich bei Hauser tatsächlich um einen badischen Erbprinzen gehandelt hatte, den man aus dynastischen Gründen bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr versteckt gehalten hatte. Und zwar – auch dessen war sich Henlein sicher gewesen – in ländlicher Abgeschiedenheit in einer Distanz von vierzig Kilometern zu Nürnberg: auf Schloss Pilsach in der Oberpfalz.
    Paul bewunderte Henlein dafür, mit welcher Akribie er seine Theorie zu beweisen versucht hatte, als er weiterlas: 1924 waren Handwerker bei Umbauarbeiten in dem herrschaftlichen Anwesen auf einen versteckten Raum im Zwischengeschoss zwischen Parterre und erstem Stock gestoßen. 1982 wurde in einer Nische des dämmrigen Kerkers ein hölzernes Spielzeugpferd gefunden. Laut Henlein hatte es auffällige Ähnlichkeiten mit einem Holzpferd, das Hauser später wiederholt gemalt hatte.
    Aber Hausers Schweigen über die eigene Vergangenheit, das er zeitlebens nicht gebrochen hatte – wie erklärte Henlein das? Paul hatte Mühe, die letzten Zeilen auf dem Blatt zu entziffern, denn Henleins Schrift war hier klein und unsauber. Die meiste Zeit hatte sich Hauser laut Henleins Theorie unter Drogeneinfluss und Hypnose relativ frei auf Schloss Pilsach bewegen können. Erst in den letzten Wochen, bevor er ausgesetzt wurde, musste er in seinem Verlies bleiben. Mit Opium und Fremdsuggestion wurde Hauser seiner letzten Gedächtnisreste beraubt, so hatte Henlein geglaubt. Als Hauser schließlich in Nürnberg auftauchte, war er ein Mensch ohne Vergangenheit.
    Für das Attentat in Ansbach hatte Henlein schließlich eine beinahe ernüchternd logische Erklärung parat: Weil die Gehirnwäsche im Laufe der Jahre nachgelassen hatte und die Erinnerung an frühere Abschnitte seines Lebens erwachte, wurde Hauser wieder zu einer Gefahr für das Königshaus . . .
    Ob Henlein im Moment seines Todes gedacht haben mochte, dass er am Ende nicht nur das schicksalhafte Leben seines Seelenverwandten Hauser geteilt hatte, sondern auch den Grund für dessen Tod? Ein Anflug von Melancholie erfasste Paul, doch dann steckte er die Kopie in den Umschlag zurück und konzentrierte sich wieder aufs Kofferpacken.
    Als es an der Wohnungstür klingelte, öffnete Paul überrascht. Er erwartete niemanden.
    »Störe ich?«
    Paul war zu verblüfft, um sofort zu antworten. Er sah kurzgeschnittenes, rotblondes Haar, ein Paar forsche Augen und Sommersprossen auf den Wangen seiner Besucherin.
    »Ich verstehe ja, wenn Sie die Polizei nicht gern in Ihre Wohnung lassen. Aber vielleicht machen Sie bei mir eine klitzekleine Ausnahme?« Kriminaloberkommissarin Jasmin Stahl sah ihn erwartungsvoll an. Die drahtige junge Frau war lässig gekleidet. Jeans und olivgrüner Pulli.
    »Der Fall Henlein ist ja nun abgeschlossen«, fuhr sie fort. »Na ja, und da dachte ich, dass Sie sich vielleicht mal bei mir melden würden. Haben Sie aber nicht. Deshalb hab ich mir gesagt: Selbst ist die Frau! Und hier bin ich nun.«
    »Das sehe ich«, sagte Paul ein wenig ratlos und ließ sie eintreten. »Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Einen Kaffee?«
    »Wie wäre es mit einer Vase?«, gab sie die Frage zurück. Damit streckte sie Paul ihre rechte Hand entgegen, die sie bis eben hinter ihrem Rücken verborgen gehalten hatte. Darin hielt sie eine zartrosa Rose.
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