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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten
Autoren: Philip Kerr
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erste Gebot zu verstoßen. Christus war nicht der Sohn Gottes, aber auch kein gewöhnlicher Mensch, sondern die Fleisch gewordene Allmacht Gottes. Er war der Engel Gottes, welcher Abraham, Jakob und Moses erschien und welcher Israel in den Zeiten der Richter regierte. Daraus geht hervor, dass das Prophetentum der wichtigste Aspekt Christi ist und nicht sein Verhältnis zu Gott und dass seit der wahren Gottesanbetung Noahs nichts mehr hinzugekommen ist.» Er lächelte und setzte nach einem Weilchen hinzu: «Kurzum, ich habe das Gefühl, dass mir der Trost vergönnt sein wird, die Philosophie nicht so böswillig entstellt zurückzulassen, wie ich sie vorgefunden habe.»
    Von da an äußerte sich Newton nur noch ausweichend zum Thema Templer-Evangelien, sodass ich dieses ihm gegenüber bald gar nicht mehr anschnitt.
    Das Buch der Templer liegt noch immer am beschriebenen Ort in der Kapelle. Vielleicht könnte es ja manchen Menschen die Antworten liefern, die sie suchen. Für mich selbst kann ich nur sagen, dass ich sie darin nicht fand, aus dem einfachen Grund, dass ich das Buch nicht gelesen habe. Denn was hätte mir eine zweite Bibel oder ein zweiter Koran sagen können? Nur dass die erste Bibel oder der erste Koran falsch war. Jede Sekte widerspricht einer anderen, weshalb es kaum je eine gab, die kein Blut vergoss.
    Alle solchen von Menschen gemachten Glaubenssysteme irren, denn sie maßen sich an, Gottes Tun verstehen zu wollen. Ich kann nicht begreifen, wie jemals irgendeine davon die Hoffnung hegen konnte, Gott zu verstehen, wenn wir doch nahezu alle noch nicht einmal in der Lage sind, uns gegenseitig zu verstehen. Welche Chance sollte ein Mann haben, das Denken
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    Gottes zu ergründen, wenn er noch nicht einmal das Denken einer Frau ergründen kann?
    Hinfort sprach Newton mir gegenüber kaum je von Miss Barton und ich wurde auch nie mehr zu ihm nach Hause eingeladen, wenn sie dort war. Es war einfach kein Thema, welches zwischen uns hätte zur Sprache kommen können. Was nicht heißt, dass das, was Mister Oates gesagt hatte, unbegründet war.
    Es ist nicht ganz sicher, wann genau Miss Barton vor aller Öffentlichkeit die Mätresse des Lordschatzmeisters Halifax wurde, aber unstrittig ist, dass zu Beginn des neuen Jahrhunderts Newtons Nichte, welche sich jetzt Mrs. Barton nannte und Lord Halifax ganz offen in dessen Haus in Bushey Park zusammenlebten, obwohl Halifax' Ehefrau noch am Leben war.
    Es war Lord Halifax, welcher Newton nach Neales Tod zum Münzmeister machte und als Newton 1705, am selben Tag wie Halifax' Bruder, von Königin Anne zum Ritter geschlagen wurde, da galt diese Ehre nicht seinen Verdiensten um die Wissenschaft und auch nicht seinen Verdiensten um die Münze, sondern den politischen Diensten, welche er Lord Halifax im Parlament erwiesen hatte, denn Newton war 1701
    Parlamentsmitglied und eine wichtige Stütze Halifax' im Unterhaus geworden. Natürlich habe ich nie vergessen, was Titus Oates damals sagte: dass es eine hübsche Nichte sei und nicht die Fluxionsmethode oder die Gravitationstheorie, welcher Newton seine Karriere verdanke und dass er die Tugend dieses Mädchens seinem eigenen Fortkommen geopfert habe.
    Unstrittig ist ebenfalls, dass Lord Halifax Mrs. Barton ein testamentarisches Vermächtnis hinterließ, welches auch das Haus beinhaltete und bei seinem Tod infolge einer Lungenentzündung im Jahr 1715 mindestens zwanzigtausend Pfund wert war. Und außer Zweifel steht ferner, dass Halifax'
    mächtige Verwandtschaft das Testament anfocht, worauf das Haus und der größte Teil des Geldes in der Familie Montagu blieben. Da erst heiratete sie Mister Conduitt.
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    Das ist jetzt dreißig Jahre her.
    Newton war ein angesehener alter Mann, als er starb. Alle Weisen dieser Welt waren seine Brüder. Er bewunderte Noah.
    Noah hätte ihm sicher einen Platz auf seiner Arche überlassen.
    Ich war zu Newtons Beisetzung eingeladen und obwohl ich mich krank fühlte, zum Hingehen entschlossen, denn ich hegte so große Bewunderung für diesen Mann wie jeder, der die unschätzbare Ehre gehabt hatte, das Denken des Doktors kennen zu lernen.
    Weise Männer sah ich viele, als Newton am Beisetzungsabend zur letzten Ruhe gebettet wurde, denn fast alle Mitglieder der Royal Society waren anwesend. Während die Glocke von Westminster Newtons Totengeläut schlug, neun Schläge, weil er ein Mann war und dann noch fünfundachtzig für die Zahl seiner Lebensjahre, überreichte Mrs. Conduitt (die
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