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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten
Autoren: Philip Kerr
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einstige Miss Barton) jedem Gast einen Trauerring, während ein Bediensteter Rosmarinzweige verteilte, zur Erinnerung und auch um den Geruch des Todes zu überdecken, welcher sich jetzt, trotz aller Anstrengungen des Einbalsamierers, doch allzu merklich verbreitete.
    Als sie mich sah, wurde sie ein wenig rot, bewahrte aber ansonsten die Fassung. «Colonel Ellis, mich wundert, wie Ihr einen Fuß in eine Kirche setzen könnt» war alles, was sie zu mir sagte.
    Mrs. Conduitt bei Newtons Beisetzung wiederzusehen und so zu mir sprechen zu hören war schmerzlich. Denn sie war noch immer genauso schön, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte und obwohl sie Trauer trug, war ich von ihr erheblich abgelenkt, denn Schwarz stand ihr ga nz ausgezeichnet, da es ihre natürlichen Farben im Kontrast so vorteilhaft hervorhob, wie Ebenholz oder Jett Gold aufs Beste zur Geltung bringt.
    Ich war natürlich noch immer in sie verliebt. Nach all den Jahren. Ich heiratete, ein paar Jahre nachdem ich aus Newtons
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    Diensten ausgeschieden war und mein Offizierspatent erhalten hatte, aber meine Frau starb vor rund zehn Jahren am Wechselfieber. Es tat mir nur leise weh, Miss Barton als Ehefrau von Mister Conduitt, einem Parlamentsmitglied, zu sehen.
    Vielleicht war gesellschaftliches Ansehen ja das, wonach sie immer gestrebt hatte. Wenn ja, muss ihr die Beisetzung ihres Onkels eine große Befriedigung gewesen sein. Jene sechs Mitglieder der Royal Society, welche die Totenbahre aus der Jerusalemkapelle durch eine schmale Tür und ein paar Stufen hinunter in das kerzenerhellte Schiff der Abbey trugen, waren die Ersten des Königreiches. Es waren der Lordkanzler, die Herzöge von Montrose und Roxburgh sowie die Earls von Pembroke, Sussex und Macclesfield. Der Bischof vo n Rochester hielt, unterstützt von den Präbendaren und dem Chor, den Trauergottesdienst, während die Trauergäste von einem Ritter des Bath-Ordens angeführt wurden. Aber es waren weit mehr Menschen gekommen, als geladen waren und meiner Schätzung nach waren an diesem Abend fast dreihundert Personen anwesend, um zuzusehen, wie Newton mit allen zeremoniellen Ehren in den Fußboden hinabgesenkt wurde.
    Es war ein großartiger Gottesdienst, in unendlichem Licht, denn da waren so viele brennende Kerzen, welche in so triumphaler Pracht auf mich herableuchteten, dass sie mich wohl an die absolute Wirkungsmacht des Unendlichen selbst erinnerten. Und wie ich so dasaß, kehrten meine Gedanken zu dem Gespräch mit Doktor Clarke zurück und ich fragte mich, welche Befriedigung Gott daraus ziehen konnte, wenn wir auch in den Fängen der Vernunft noch glaubten. Wozu konnte es gut sein, Gott zu sagen, ich sei von etwas überzeugt, wovon man rational gar nicht überzeugt sein konnte? Machte das den Glauben nicht zur Lüge? Je länger ich diese Frage in Zusammenhang mit Newton erwog, desto deutlicher erkannte ich dessen eigenes Dilemma.
    Der Glaube forderte von ihm, nicht das zu glauben, was wahr war, sondern das, was er, dessen Erkenntnisvermögen so groß
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    war, für falsch hielt. Der größte Feind seines Glaubens scheint sein eigener Genius gewesen zu sein. Wie hätte er, dessen ganzes Leben der Erkenntnis gewidmet war, das, was ihn ausmachte, etwas anderem unterordnen können?
    Vielleicht liefert ja die Alchemie die beste Metapher für Newtons Go ttesglauben. Denn in meinen Augen war seine Religion wie ein Regulus, der reinere oder metallische Teil eines Minerals, welcher auf den Grund des Tiegels oder Schmelzofens sinkt und so von der übrigen Materie geschieden wird. Dieser Regulus ist verborgen und das Geheimnis liegt allein in den Händen der Eingeweihten. Es war Weisheit, welche noch nicht durch Offenbarung reglementiert war; in allen anderen Religionen ist der gesunde Menschenverstand durch Aberglauben pervertiert.
    Ist es das, was ich glaube? Ich würde gern an irgendetwas glauben.
    Am Ende des Gottesdienstes wurde eine schwarze Steinplatte auf sein Grab gesenkt, welches nur wenige Schritte von den Gräbern der Könige und Königinnen von England liegt. Und alles brach auf und ich ging zum Hell, einem Wirtshaus nahe dem Eingang von Westminster Hall, am Exchequer Court und dachte dort noch weiter über diese Dinge nach.
    Ich bin jetzt fünfzig. Meine Lebensuhr läuft ab. Manchmal ist mir, als fühlte ich mein Herz an meinem Rückgrat scheuern.
    Vielleicht ist es ja meine eigene Sterblichkeit. Bald werde ich alle Antworten kennen, wenn es denn mehr Antworten gibt, als
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