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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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VORWORT
    A ls ich noch Student war, besuchte ich gegen Ende des Semesters regelmäßig den Yale-Laden und schaute, was ich für den Sommer zu lesen fand. Mein Taschengeld war knapp, doch die Buchhandlung schlug alljährlich ihre Ladenhüter los, zu lächerlich kleinen Preisen. Die Bücher wurden in Wühlkästen gestopft, und ohne feste Absichten machte ich mich darüber her, wartete einfach ab, was mir ins Auge fiel. Auf einem dieser Beutezüge stieß ich auf ein Taschenbuch mit einem äußerst seltsamen Cover, aufmerken ließ mich ein Ausschnitt aus einer Zeichnung des Surrealisten Max Ernst. Unter einer Mondsichel hoch über der Erde waren zwei Beinpaare – die Körper fehlten – mit etwas beschäftigt, das wohl ein himmlischer Beischlaf sein sollte. Das Buch – eine Prosaübersetzung von Lukrez’ zweitausend Jahre altem Gedicht De rerum natura (Von der Natur) – war herabgesetzt auf zehn Cent, und wie ich gestehen muss, hatte ich es eher auf den Umschlag abgesehen als auf die klassische Darstellung des Kosmos und seiner Ausstattung.
    Antike Physik ist nicht ganz das, was man sich unter Ferienlektüre vorstellt, doch irgendwann in diesem Sommer, in einer müßigen Stunde, nahm ich das Buch in die Hand und begann zu lesen. Und stieß schon in den ersten Versen auf eine mehr als hinreichende Rechtfertigung für die erotische Umschlagillustration. Lukrez setzt ein mit einem glühenden Hymnus an Venus, die Göttin der Liebe, deren Erscheinung im Frühling das Gewölk vertreibt, den Himmel mit Licht füllt und die ganze Welt mit rasendem sexuellem Begehren:
    Kaum nämlich ist die Pforte des Frühlings aufgesprungen und es wirkt, plötzlich befreit, die Brise des Zephyr, da, Göttin, künden die Vögel dich an, ins Herz getroffen von deinen mächtigen Pfeilen. Dann
toben das Wild und das Vieh über üppige Weiden, schwimmen durch wilde Ströme: Von deinem Zauber gefangen, begierig folgen sie alle dir, willig, wohin du sie führst. Dann senkst du verführerische Liebe ins Herz aller Kreaturen, die leben in den Meeren und Bergen und fließenden Strömen und in der Vögel belebtem Dickicht, auf grünenden Fluren; den leidenschaftlichen Trieb senkst du in sie, ihre Art zu vermehren. 1
    Fasziniert von der Intensität dieses Auftakts las ich weiter, kam zur Vision des in Venus’ Schoß ruhenden Kriegsgottes Mars – »bezwungen von der nie heilenden Wunde der Liebe, den Nacken zurückgeworfen, schaut er in Liebe begierig dich an« –; von dort zu einer Bitte um Frieden, zum Lobpreis auf die Weisheit des Philosophen Epikur und zur resoluten Abwehr abergläubischer Furcht. Als ich dann bei einer längeren Darstellung erster Prinzipien der Philosophie landete, zweifelte ich, ob mein Interesse noch lange anhalten würde: Niemand hatte mir das Buch empfohlen, ich suchte allein Vergnügen und Leselust, hatte allerdings jetzt schon den Eindruck, mehr als den Wert meiner zehn Cent zurückerhalten zu haben. Und zu meiner großen Überraschung ließ mich das Buch nicht mehr los.
    Es war nicht die herrliche Sprache Lukrez’, die mich fesselte. Später erst arbeitete ich De rerum natura in seinen lateinischen Hexametern durch und begann etwas zu ahnen von der reichen Textur dieser Sprache, den feinen Rhythmen, von Raffinesse, Präzision und Prägnanz der Lukrez’schen Bilderwelt. Bei meiner ersten Begegnung half mir Martin Ferguson Smiths gediegene englische Prosa – klar und schnörkellos, aber kaum bemerkenswert. Nein, etwas anderes hatte mich berührt, etwas, das über die zweihundert eng bedruckten Seiten hinweg in allen Sätzen lebte und webte. Mein Beruf bringt mich dazu, Menschen anzuhalten, bei ihrer Lektüre genau auf die sprachliche Oberfläche dessen zu achten, was sie lesen. An dieser Aufmerksamkeit hängt zum Gutteil das Vergnügen, auch das Interesse an Dichtung. Und selbst aus einer bescheidenen Übersetzung lässt sich ein nachhaltiger Eindruck von einem Kunstwerk gewinnen, von einer brillanten Übertragung ganz zu schweigen. Schließlich entdecken wir den größten Teil der literarischen Welt auf diese Weise, lernen so die Genesis kennen und ebenso die Ilias oder Hamlet, und selbst wenn es gewiss das
Beste wäre, solche Werke in ihrer Originalsprache lesen zu können, wäre die Behauptung irreführend, dass es keinen anderen, nur diesen Zugang zu ihnen gibt.
    Ich jedenfalls kann bezeugen, dass On the Nature of Things selbst als Prosaübersetzung eine tiefe Saite in mir zum Klingen brachte. Das hatte auch
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