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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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schöpfen. Ulm, am Ufer der Donau, war eine reiche
Stadt mit Handwerk und Handel, ebenso Heidenheim, Aalen, Rothenburg ob der Tauber und das noch schönere Würzburg. Stadtbürger, Wollhändler, Kaufleute, die mit Leder und Stoffen handelten, Weinhändler und Bierbrauer, Handwerker und ihre Lehrlinge, aber auch Diplomaten, Bankiers und Steuereintreiber, sie alle traf man regelmäßig auf den Straßen. Einer wie Poggio aber passte nicht in dieses Bild.
    Auch weniger betuchtes Volk war unterwegs, Gesellen, Kesselflicker, Messerschleifer und andere, deren Gewerbe sie zum Umherziehen zwang; dazu Pilger auf dem Weg zu bestimmten Wallfahrtsorten, wo sie in Gegenwart von Reliquien, dem Splitter eines Knochens eines Heiligen oder einem Tropfen heiligen Blutes beten konnten; Gaukler, Wahrsager, Falkner, Akrobaten und Schauspieler zogen von Dorf zu Dorf; dazu Entflohene, Vagabunden und Gauner. Und dann waren da auch Juden unterwegs, mit konischen Hüten und dem gelben Judenzeichen, die sie auf Anordnung der christlichen Obrigkeiten tragen mussten, was sie, Objekte von Verachtung und Hass, leicht identifizierbar machte. Auch zu diesen Gruppen gehörte Poggio ganz sicher nicht.
    Kurz, er muss denen, die ihn vorbeireiten sahen, tatsächlich als rätselhafte Gestalt erschienen sein. Die meisten Menschen damals signalisierten ihre Herkunft, Stand oder Identität, ihre Stellung im hierarchischen Gesellschaftssystem der Zeit. Das geschah mit Zeichen, die jedermann lesen konnte, so wie die Farbe an den Händen der Färber. Poggio aber war einfach nicht zuzuordnen. Ein vereinzelter Mann, der offenbar außerhalb von Familienbindungen lebte, keinem Gewerbe angehörte, das konnte es eigentlich gar nicht geben. Denn damals zählten Zugehörigkeit und Herkunft. Ein kleines Couplet, das Alexander Pope im 18. Jahrhundert verfasste, um einen der kleinen Möpse der Königin zu verspotten, hätte, und zwar ohne Spott, auf die Welt gepasst, in der Poggio lebte:
    I am his Highness’ dog at Kew;
Pray tell me, sir, whose dog are you?
    Ich bin ihrer Hoheit Hund aus Kew;
Ich bitt euch, Herr, sagt, wessen Hund bist du?
    Der Hausstand, das Netzwerk der Verwandten, Zunft und Gilde, Handelsgesellschaft und Gemeinde – das waren die Zeichen, die Bausteine, aus denen eine Person gemacht wurde. Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein waren kulturell noch keine Werte, ja, sie waren kaum wahrzunehmen, woher also sollte Wertschätzung kommen? Identität erhielt man durch einen genau umrissenen, ausgemachten Platz in der Kette von Befehl und Gehorsam.
    Jeder Versuch, sich aus dieser Kette zu befreien, wäre töricht gewesen. Eine anmaßende Geste – die Weigerung, sich zu verbeugen, niederzuknien, die Kopfbedeckung zu ziehen, wenn eine entsprechend honorable Person vorüberkam – konnte dazu führen, dass einem die Nase aufgeschlitzt, womöglich das Genick gebrochen wurde. Doch warum auch hätte man so etwas tun sollen? Schließlich war es ja nicht so, dass es irgendwelche sinnvollen, haltbaren Alternativen gegeben hätte, gar solche, die Kirche oder Gerichte oder die städtischen Oligarchen formuliert hätten. Am besten fuhr, wer Identität und Rolle demütig akzeptierte, in die er oder sie hineingeboren worden war: Der den Pflug führte, musste eben nur wissen, wie man diesen führte, der Weber, wie man webte, der Mönch, wie zu beten war. Natürlich konnte man in diesen Dingen besser oder schlechter bewandert sein; die Gesellschaft, in der Poggio sich befand, konnte ungewöhnliche Fähigkeiten durchaus anerkennen und auch belohnen, manchmal in beträchtlichem Umfang. Doch so gut wie nie hatte man davon gehört, dass eine Person für irgendeine unwägbare Individualität oder wegen ihrer Vielseitigkeit oder besonderen Neugier anerkannt worden wäre. Tatsächlich hielt die Kirche Neugier für eine der Todsünden. Wer sich ihr hingab, riskierte ein ewiges Leben in der Hölle. 2
    Wer also war Poggio dann? Warum hat er seine Identität nicht mit irgendwelchen Zeichen kundgetan, so wie anständige Leute das zu tun gewohnt waren? Er trug solche Insignien nicht, schleppte keine Warenbündel mit sich herum. Er zeigte das selbstbewusste Auftreten eines Mannes, der es gewohnt war, sich in Gesellschaft der Großen zu bewegen, er selbst aber war ganz offensichtlich kein Mann von großer Bedeutung. Jedermann wusste doch, wie solche bedeutenden Persönlichkeiten aussahen und daherkamen, denn dies war eine Gesellschaft der Dienstverpflichteten und bewaffneten Leibgarden
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