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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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und livrierten Diener. Dieser Fremde,
einfach gekleidet, ritt in Begleitung nur eines Gefährten. Machten sie Rast in einem Gasthaus, erledigte der Begleiter, offenbar ein Gehilfe oder Diener, die Bestellung; wenn der Meister sprach, wurde klar, dass er wenig oder gar kein Deutsch konnte, seine Sprache war vielmehr das Italienische.
    Hätte er einer neugierigen Person erklären wollen, mit welchen Absichten er reiste, hätte dies das Geheimnis um seine Person nur vergrößert. In einer Gesellschaft, in der nur sehr wenige Menschen lesen und schreiben konnten, konnte Interesse an Büchern zu äußern nur merkwürdig wirken. Und wie hätte Poggio über die noch verrücktere Art seiner ganz persönlichen Interessen sprechen sollen? Er suchte keine Stundenbücher, nicht Messbücher oder Gesangbücher, deren Wert Illiterate immerhin an ihrer prachtvollen Bindung, an Ausstattung und Illustrationen hätten erkennen können. Solche Bücher, einige davon juwelenbesetzt und in Gold gefasst, wurden zumeist in besonderen Schränken eingeschlossen oder an Lesepulte und Regale gekettet, sodass sich leichtfingrige Leser nicht mit ihnen aus dem Staub machen konnten. Doch solche Bücher reizten Poggio gar nicht. Ihn zog es auch nicht zu den theologischen, medizinischen oder juristischen Folianten, deren Besitz unter führenden Vertretern der jeweiligen Profession der Prestigesteigerung diente. Diese Bücher hatten die Macht, selbst diejenigen einzuschüchtern, die sie kaum lesen konnten. Sie verströmten eine Art soziale Magie, derart, dass sie in den meisten Fällen mit unangenehmen Erlebnissen verbunden waren: ein Gerichtsprozess, eine schmerzhafte Schwellung in der Leistengegend, eine Anklage wegen Hexerei oder Ketzerei. Ein normaler Mensch hätte ohne weiteres geglaubt, dass solche Bücher über Zähne und Klauen verfügten, hätte sich darum auch vorstellen können, warum gescheite Menschen Jagd auf sie machten. Doch auch in dieser Hinsicht gab Poggios Gleichgültigkeit Rätsel auf.
    Der Fremdling war auf dem Weg in ein Kloster, war aber weder Priester noch Theologieprofessor noch Inquisitor, er suchte auch keineswegs nach Gebetbüchern. Er war hinter alten Manuskripten her, von denen viele halb verrottet waren, voller Wurmlöcher und selbst für geübteste Leser alles andere als leicht zu entziffern. Waren die Pergamentbögen, auf denen solche Bücher geschrieben wurden, noch intakt, hatten sie immerhin einen gewissen Materialwert, denn man konnte sie mit einer Messerklinge sorgfältig abschaben, mit Talkum glätten und dann erneut beschreiben.

    Doch Poggio war auch nicht im Pergamentenhandel aktiv, vielmehr hasste er alle, die alte Buchstaben abkratzten. Er wollte sehen, was da geschrieben stand, selbst wenn das Geschriebene schlecht lesbar war, und vor allem hatten es ihm jene Manuskripte angetan, die vier-, fünfhundert Jahre alt waren, aus dem zehnten Jahrhundert stammten, vielleicht aus noch älteren Zeiten.
    Allenfalls eine Handvoll Menschen in Deutschland hätten, wenn er mit ihnen darüber gesprochen hätte, nicht verschroben, gar unheimlich gefunden, was Poggio tat. Und es wäre den Zeitgenossen noch unheimlicher erschienen, hätte Poggio davon erzählt, dass ihn auch das nicht interessierte, was vor vier- oder fünfhundert Jahren geschrieben worden sei. Denn er verachtete diese Zeit, die ihm als Jauchegrube voller Aberglauben und Unwissenheit erschien. Was er tatsächlich zu finden hoffte, waren Worte, die nichts mit der Zeit zu tun hatten, in denen sie auf das alte Pergament gesetzt worden waren, Worte, die im besten Fall unverdorben, jedenfalls nicht verdorben waren durch das geistige Universum des niederen Schreibers, der sie kopierte. Dieser Schreiber war, so hoffte Poggio, pflichtbewusst und genau beim Kopieren eines Pergaments, das damals schon alt gewesen war, das zuvor ein anderer Schreiber kopiert hatte, dessen bescheidenes Leben, abgesehen davon, dass er diese Spur hinterlassen hatte, für den Bücherjäger ebenfalls ohne besonderes Interesse war. Wenn die ans Wunderbare grenzende Glückssträhne anhielt, war dieses ältere Manuskript, seit langem unter Staub vergraben, seinerseits eine getreue Kopie einer noch älteren Handschrift, und auch die wiederum die Kopie einer nochmals älteren. In solchem Fall begann die Sache spannend zu werden, vor Aufregung würde Poggios Herz schneller schlagen. Die Spur würde ihn zurückführen nach Rom, nicht ins zeitgenössische Rom mit dem korrupten Hofstaat des Papstes,
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