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Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Solom: Der Wanderprediger (German Edition)

Titel: Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Autoren: Scott Nicholson
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    1. KAPITEL
     
    Der Blackburn River war alt. Sehr alt.
    Geologen zufolge war er der zweitälteste Fluss der Welt, gleich nach dem Amazonas.
    Den Einwohnern von Solom war die Vergangenheit jedoch egal. Sie sahen nur das schmale, silberne Band, das die braunen Berge zerschnitt. Im Frühling brachte das Wasser Nährstoffe, im Sommer hielt es das Vieh am Leben und im September umsprudelte es brausend die gelbweißen Steine. Im Januar sickerte es langsam vor sich hin, doch wenn im März die Schneeschmelze kam, rauschte es in weißen Strömen die Berge hinab. Vielleicht hatte auch der Fluss ein instinktives Gefühl für das Kommen und Gehen, für Ebbe und Flut – so wie die Menschen, die sich an seinem Ufer niedergelassen hatten.
    Solom hatte seinen Namen einem Missverständnis zu verdanken. Manche behaupteten, es habe früher Solomon geheißen, nach dem biblischen König Salomon. Andere sagten, die frühere Schreibweise Solomn leitete sich vom englischen Wort »solemn« ab. Das konnte alles heißen, von ernsthaft und getragen wie bei einem Gottesdienst bis hin zu schwer und feierlich wie bei einer Beerdigung. Die Bewohner des Tals hatten irgendwann den letzten Buchstaben einfach weggelassen. Wenn man es »Solom« aussprach, dann konnte man es auch so schreiben.
    Die Ureinwohner dieser Gegend waren die Büffel gewesen, die ihre Spuren in die Hügel gemeißelt hatten, als sie im Sommer von Kentucky zum Piedmont-Plateau in Carolina zogen. Zu Tausenden waren sie hier durchgetrampelt. Die Erde hatte gebebt, wenn sich ihre Hufe in die Erde gruben. Die Indianerstämme der Cherokees und Catawba kamen nur im Herbst hierher, weil es dann Fleisch gab. Ansonsten hatten die Indianer gespürt, dass man diesen tristen, kalten Bergen am besten fernblieb. Dann kam der Weiße Mann und bevölkerte die Hänge wie eine Horde Ameisen.
    Daniel Boone und die anderen Trapper und Jäger aus dem alten Europa waren grausam. Sie lauerten den Büffeln an ihren Pfaden auf und schlachteten sie ab. Zu jeder Jahreszeit. Die natürliche Nahrungskette ließ sie dabei völlig kalt. Innerhalb weniger Jahrzehnte waren die Büffel und Hirsche, von denen sich die Indianer jahrhundertelang ernährt hatten, verschwunden. Die einzige Erinnerung an sie waren vereinzelte Ortsnamen oder flohverseuchte Büffelhäute, die als Bettvorleger dienten. Die Cherokees hatten ihre eigenen Probleme. Sie waren von bewaffneten Männern nach Oklahoma vertrieben worden, wo ihnen das Land so fremd war, als wären sie auf dem Mars gelandet. Später versuchte die Regierung ihre Schuld zu übertünchen, indem sie ihnen die Macht über die Spielcasinos gab. Doch da waren ihre Traditionen und die Seele ihres Stamms schon fast verloren. Sie träumten von spirituellen Reisen, die sie zu den Büffeln führten, doch wenn sie aufwachten, sahen sie nur die künstlich aufgehypten Götter der Neuzeit: Britney Spears, bekannte Baseballspieler oder die von den Medien hochgejubelte, zynische Regierung, die in der Gesellschaft vor allem die Angst schürte – besonders in den Randgruppen.
    Den Einwohnern von Solom war das alles so ziemlich egal. Die Vorfahren der Bewohner waren meist Farmer oder Holzfäller gewesen. Die Frauen waren fromm und drall, und wenn die Männer nicht gerade in der Kirche waren, kippten sie sich gern einen hinter die Binde. Sie alle hatten ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, und die Kirchenbücher sprachen für viele das letzte Wort, ob man ein ehrwürdiges Leben geführt hatte oder nicht. Wenn ein Mann starb, wurde der Nachruf meist von einem Familienmitglied verfasst, das kaum lesen und schreiben konnte. Hatte der Verstorbene ein gutes Leben geführt, erinnerte man sich an ihn als guten Familienvater, Freund der Kirche und der Gemeinde oder ehrlichen Händler. Hatte er in einem dieser Bereiche versagt, dann beschäftigte sich der Nachruf hauptsächlich mit der Frage, wo seine Seele wohl ihre letzte Ruhe finden würde.
    Bei Frauen war der Maßstab enger gefasst, aber dennoch in gewisser Weise anspruchsvoller. Hatte sie ein gebärfreudiges Becken gehabt, in dem eine stattliche Zahl Kinder herangewachsen war? Saß sie in der Kirche immer schön still auf ihrer Seite und erhob ihre Stimme erst dann, wenn die Männerschaft den richtigen Ton angestimmt hatte? Legte sie die Bibel auf den Schoß und nicht aufs Brett? Waren in ihrem Nachruf mehr als zwölf Enkelkinder aufgeführt?
    Für Harmon Smith hatte niemand einen Nachruf geschrieben, und sein Name war in keiner
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