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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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etwas mit besonderen persönlichen Umständen zu tun – Kunst dringt stets durch bestimmte Risse im Seelenleben eines Menschen in diesen ein. Im Kern ist Lukrez’ Lehrgedicht eine tiefe, therapeutische Meditation über die Todesfurcht, und diese Furcht hat meine ganze Kindheit bestimmt. Nicht die Angst vor meinem eigenen Tod bedrängte mich derart; mich selbst hielt ich auf die übliche, kindlich gesunde Art für unsterblich. Die Angst entsprang der absoluten Gewissheit meiner Mutter, dass ihr ein früher Tod bestimmt sei.
    Sie fürchtete sich nicht vor dem Jenseits. Wie die meisten Juden hatte sie nur eine vage, schemenhafte Vorstellung dessen, was jenseits des Grabes liegen mochte, und sie machte sich darüber auch nur wenige Gedanken. Der Tod selbst – also schlicht die Tatsache, dass sie nicht mehr sein würde – erfüllte sie mit Angst und Schrecken. So weit ich zurückdenken kann, grübelte sie über ihr unmittelbar bevorstehendes Ende, beschwor es wieder und wieder, insbesondere in Momenten des Abschieds. Mein Leben war voll ausgedehnter, opernhafter Abschiedsszenen. Ob sie mit meinem Vater übers Wochenende von Boston nach New York fuhr, ob ich aufbrach ins Sommerlager, sogar – wenn ihr selbst das Leben besonders schwer erschien – wenn ich mich einfach nur auf den Weg in die Schule machte, jedesmal klammerte sie sich fest an mich, sprach von ihrer Hinfälligkeit und davon, dass es keineswegs ausgeschlossen sei, dass ich sie nie wiedersehen würde. Gingen wir irgendwo spazieren, hielt sie häufig an, so, als würde sie gleich zusammensinken. Manchmal zeigte sie dann auf eine an ihrem Hals pulsierende Vene, nahm meinen Finger und ließ sie mich fühlen, diese Signale ihres bedenklich rasenden Herzens.
    Sie muss damals, zu der Zeit, da meine Erinnerungen an ihre Ängste einsetzen, Ende dreißig gewesen sein, aber ihre Ängste reichten ganz eindeutig weiter zurück, offenbar bis in das Jahrzehnt vor meiner Geburt. Damals war ihre jüngere Schwester, gerade sechzehn Jahre alt, an einer Halsentzündung gestorben. Dieses Ereignis – nicht wirklich selten in der
Zeit vor Einführung des Penizillin – war für meine Mutter eine noch immer offene Wunde: Permanent sprach sie davon, weinte still, ließ mich wieder und wieder die ergreifenden Briefe lesen, die dieses junge Mädchen während seiner tödlichen Krankheit geschrieben hat.
    Ich habe schon früh verstanden, dass das »Herz« meiner Mutter – das Herzrasen, das sie und alle um sie herum immer wieder zum Innehalten brachte – eine Überlebensstrategie war, ein Symbol, das Mittel, sich mit ihrer toten Schwester zu identifizieren und um sie zu trauern. Es war auch ein Weg, sowohl Ärger – »Da siehst du, wie du mich wieder aufregst!« – als auch Liebe zu zeigen – »Sieh doch, ich tue alles für dich, selbst wenn mir das Herz dabei bricht.« Es war ein Ausagieren, Probe und Vorwegnahme der Auslöschung, die sie fürchtete. Und vor allem erzwang sie so Aufmerksamkeit, forderte Liebe. Doch selbst wenn mir das klar war, minderte das die Wirkung dieses Verhaltens auf meine Kindheit nicht: Ich liebte meine Mutter und fürchtete, sie zu verlieren. Mir fehlten die Voraussetzungen, zwischen psychologischer Strategie und gefährlichem Symptom zu unterscheiden. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie selbst dazu in der Lage war.) Und als Kind konnte ich auch nicht richtig einschätzen, wie verquer dieses permanente Lamento vom drohenden Tod war, dieses Aufladen jedes Abschieds mit Endgültigkeit. Erst jetzt, nachdem ich selbst eine Familie gegründet habe, ahne ich, wie dunkel die Zwänge gewesen sein müssen, die eine liebende Mutter – und meine Mutter liebte tatsächlich – dazu brachten, ihren Kindern diese emotionale Bürde aufzuladen. Jeder Tag brachte ihr aufs Neue die trübe Gewissheit, dass ihr Ende nahe sei.
    Wie sich herausstellte, lebte meine Mutter lange und hat ihren neunzigsten Geburtstag nur um einen Monat verpasst. Sie war, als ich On the Nature of Things zum ersten Mal in der Hand hatte, um die fünfzig. Damals war meine Furcht, sie könne sterben, schon verwoben mit der schmerzlichen Wahrnehmung, wie viel von ihrem Leben sie sich, so sehr in Anspruch genommen von ihren obsessiven Ängsten, verdorben hatte und wie sehr dies zudem einen Schatten auf meines geworfen hatte. Lukrez’ Worte erklangen darum in fürchterlicher Klarheit: »Der Tod berührt uns nicht.« Es sei, schreibt Lukrez, schierer Unfug, das Leben im Griff
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