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Wende

Wende

Titel: Wende
Autoren: S Greenblatt
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der Todesangst zu verbringen. Es sei ein sicherer Weg, Lebenszeit unerfüllt und freudlos
verrinnen zu lassen. So artikulierte er einen Gedanken, den zu fassen, und sei’s nur innerlich, ich mir damals noch nicht erlaubt hatte: dass es nämlich manipulativ und grausam ist, anderen diese Angst einzuflößen.
    Das also war, in meinem Fall, das ganz persönliche Einfallstor für das Gedicht, die eigentliche Quelle der Macht, die es über mich gewann. Doch war das nicht ausschließlich Folge meiner eigentümlichen Lebensgeschichte. On the Nature of Things berührte mich als erstaunlich überzeugende Darstellung dessen, wie die Dinge wirklich sind. Erstaunlich deswegen, weil natürlich auch mir klar war, dass viele Einzelheiten dieses antiken Berichts heute absurd erscheinen. Wie hätte das anders sein können? Was werden Menschen in zweitausend Jahren von unserer Darstellung des Universums halten? Lukrez glaubte, dass sich die Sonne um die Erde drehe, behauptete, sie könne nicht viel heißer, nicht viel größer sein, als unsere Sinne sie wahrnähmen. Würmer hielt er für spontane Hervorbringungen feuchter Erde, erklärte den Blitz als Saat des Zorns, aus hohlen Wolken geschleudert, malte die Erde als Mutter im Klimakterium, erschöpft von so viel Vermehrung. Den Kern des Gedichts jedoch bilden Leitsätze und Prinzipien eines neuzeitlich modernen Weltverständnisses.
    Stofflich besteht das Universum, wie Lukrez erklärt, aus unzähligen Atomen, die sich zufällig durch den Raum bewegen, so wie Staub im Sonnenlicht tanzt. Dabei stießen sie zusammen, verhakten sich, bildeten komplexe Strukturen, brächen wieder auseinander – und all das in einem endlosen Prozess von Schöpfung und Zerstörung, aus dem es kein Entrinnen gebe. Schaut man zum Nachthimmel auf und wundert sich, unerklärlich bewegt, über die zahllosen Sterne, dann, so Lukrez, betrachtet man nicht das Handwerk von Göttern, auch keine kristalline Sphäre, die losgelöst wäre von unserer vergänglichen Welt. Im Himmel erblicke man die gleiche materielle Welt, deren Teil man selbst sei und aus deren Elementen man auch selbst bestehe. Es gibt für Lukrez keinen Schöpfungsplan, keinen göttlichen Architekten, kein intelligentes Design. Alle Dinge, auch die Spezies, zu der wir selbst gehören, haben sich in riesigen Zeiträumen gebildet. Diese Evolution erfolgt zufällig, bei lebenden Organismen allerdings kommt ein Prinzip natürlicher Auslese ins Spiel. Will sagen, Arten, die geeignet sind, zu überleben und sich zu reproduzieren, überdauern erfolgreich, zumindest für eine gewisse Zeit; die weniger geeigneten dagegen sterben rasch aus.
Nichts jedoch – angefangen von unserer eigenen Art über den Planeten, auf dem wir leben, bis hin zur Sonne, die unsere Tage erleuchtet – ist für immer. Unsterblich sind allein die Atome.
    Ein derart konstituiertes Universum, so Lukrez weiter, bietet keinen Grund anzunehmen, dass die Erde oder ihre Bewohner einen zentralen Platz innehätten; keinen Grund, die Menschen von allen anderen Tieren zu sondern; keine Hoffnung, die Götter bestechen oder besänftigen zu können; weder Ort noch Anlass für religiösen Fanatismus; keinen Grund für den Ruf nach asketischer Selbstverleugnung, keine Rechtfertigung für Träume grenzenloser Macht oder vollkommener Sicherheit; keinen vernünftigen Grund für Kriege der Eroberung oder Selbstverherrlichung; keine Chance, die Natur überwinden zu können, dem unaufhörlichen Werden und Vergehen und erneuten Werden der Formen je entkommen zu können. Jenseits des Ärgers über all jene, die entweder mit falschen Visionen der Sicherheit hausieren gehen oder irrationale Ängste vor dem Tod schüren, hat Lukrez noch etwas ganz anderes zu bieten, nämlich ein Gefühl der Befreiung, die Kraft, auf das herabzublicken, was so quälend scheint. Etwas nämlich, schrieb er, können die Menschen, und sie sollen es auch tun: ihre Ängste bezwingen, akzeptieren, dass sie selbst und alle Dinge, die ihnen begegnen, vergänglich sind. Nur so werde es ihnen gelingen, die Schönheit, die Lust an der Welt zu erfassen und festzuhalten.
    Ich wunderte mich – und tue dies bis heute –, dass Gedanken wie diese einen so vollkommenen Ausdruck fanden in einem Werk, das vor über zweitausend Jahren verfasst wurde. Die Verbindung zwischen diesem Text und der Moderne ist keine direkte, so simpel liegen die Dinge nie. Zwischen beiden Epochen dehnen sich unzählige Perioden des Vergessens, des Verschwindens,
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