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Der Toten tiefes Schweigen

Der Toten tiefes Schweigen

Titel: Der Toten tiefes Schweigen
Autoren: Susan Hill
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[home]
    Eins
    N ach zwei Stunden Anstieg waren sie in die niedrig hängenden Wolken gekommen. Es hatte angefangen zu nieseln.
    Er wollte gerade eine ironische Bemerkung über die optimistische Wettervorhersage loslassen, als Iain den Kopf leicht nach links drehte und den Zeigefinger ausstreckte.
    Iain kannte die Berge und das Wetter in den Bergen, die kaum merklichen Veränderungen der Windrichtung. Kannte sie besser als jeder andere.
    Doch sie blieben immer noch stehen, still, sprachen kein Wort. Jetzt herrschte Spannung. Gerade war sie noch nicht da gewesen.
    Etwas.
    Die Sonne brach durch den Wolkenschleier und riss ihn in Fetzen. Zuerst schien sie wässrig, doch dann – wie ein Mann, der ins Blickfeld springt – voll und kräftig. Iains Mundwinkel zuckten. Er lächelte.
    Aber sie blieben stehen. Reglos und schweigend. Warteten.
    Iain hob das Fernglas an die Augen und blickte von links nach rechts, langsam, ganz langsam.
    Und er wartete, beobachtete Iains Kopfhaltung, wartete auf den richtigen Augenblick.
    Ihre Kleidung begann in der Sonne zu dampfen.
    Iain ließ das Fernglas sinken und nickte.
     
    Sie befanden sich oberhalb des Rotwilds, und auch in einem Radius von fünfhundet Metern sah er nichts. Aber die Tiere waren natürlich da. Iain wusste es. Sie bewegten sich vorsichtig, immer gegen den Wind. Der Boden hier war steinig, rutschig.
    Die gewohnte Erregung überkam ihn. Das waren die besten Momente. Wenn man es wusste. Man war nah dran, so nah, dass man sie im Visier hatte, so nah an Sinn und Zweck des Ganzen, dem Höhepunkt.
    So nah.
    Iain atmete zwischen vorgeschobenen Lippen kaum wahrnehmbar aus.
    Er folgte der Sichtlinie.
    Der Hirsch war allein, auf halber Höhe des niedrigeren Abhangs, westlich von ihnen. Das Tier hatte nichts gewittert. So sollte es bleiben.
    Sie legten sich auf den Boden und krochen los, das nasse Erdreich unter dem Bauch, die Sonne auf dem Rücken. Die Mücken fielen in Scharen über sie her, suchten sich unbeirrbar einen Weg durch Öffnungen in der Kleidung und überwanden die Barriere aus Citronella-Öl, doch er war jetzt so bei der Sache, dass er sie kaum bemerkte. Später würden ihn die Stiche zur Raserei bringen.
    Sie krochen zehn Minuten weiter leicht bergab, bis sie auf einer Höhe mit dem Hirsch waren, etwa zweihundert Meter von ihm entfernt.
    Iain verharrte. Hob das Fernglas. Sie warteten. Beobachteten. Wie versteinert.
    Es war heiß geworden. Kein Lüftchen wehte mehr.
    Sie schoben sich ungefähr dreißig Meter weiter, und für diese dreißig Meter brauchten sie zehn Minuten; sie bewegten sich kaum. Gerade genug.
    Der Hirsch hob den Kopf.
    »Der Alte«, flüsterte Iain so leise, dass er es fast nicht hörte.
    Der älteste Hirsch. Nicht so groß wie die im niedrigeren Gelände und ohne das ausladende Geweih. Aber mächtig genug. Alt. Zu alt für einen weiteren Winter. Er hatte zu viel Respekt vor dem Tier, um das zuzulassen.
    Sie waren jetzt etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Doch dann schüttelte der Hirsch den Kopf, wandte sich seitlich ab, im Passgang, ohne ihnen den Rücken zuzukehren. Sie warteten.
    Warteten. Die Sonne brannte. Er kochte in seiner Wachsjacke.
    Dann drehte sich der Hirsch wie zufällig um, hob in einer atemberaubenden Sekunde den Kopf und sah ihm voll ins Gesicht. Als wüsste er es. Als hätte er gewartet und wollte sich für ihn perfekt in Positur stellen.
    Er zog das Gewehr von der Schulter. Lud. Iain sah gespannt durch das Fernglas.
    Sorgfältig brachte er sich in Stellung und nahm das Tier ins Visier.
    Der alte Hirsch hatte sich nicht bewegt. Er hatte den Kopf jetzt höher gehoben und sah ihn direkt an.
    Er wusste es.
    Iain wartete, wie festgefroren am Fernglas.
    Die Welt blieb stehen.
    Er zielte auf das Herz.

[home]
    Zwei
    D unkelblaue Jacke. Blau-weiß bedruckte Bluse. Mittelhohe Absätze.
    Schal? Oder die Perlenkette?
    Kette.
    Helen Creedy ging ins Bad und fummelte an ihren Haaren herum. Kam wieder heraus und sah sich noch einmal im Standspiegel an. Mein Gott, wie sie aussah – altmodisch. Das war das passende Wort. Als ginge sie zu einem Bewerbungsgespräch.
    Sie zog Rock, Bluse und Jacke wieder aus und fing von vorne an.
    Es war sehr warm. Ende September, Altweibersommer.
    Genau. Hellgraue Leinenhose. Lange Leinenjacke. Die purpurrote Bluse, die sie noch nie getragen hatte.
    Besser? Ja. Ohrringe? Nur schlichte Stecker.
    Draußen dröhnte es, als Tom sein Motorrad beim Einbiegen in die Einfahrt noch einmal aufheulen ließ. Das Dröhnen
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