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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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    Â 
    Es war einmal, vor sechzig Jahren, eine französische Familie. Eine gewöhnliche französische Familie, die glücklich war, dass sie den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, der gerade zu Ende gegangen war.
    In dieser Atmosphäre der allgemeinen Erleichterung, der Freude, des felsenfesten Glaubens an eine brüderliche Zukunft und der Rationierung von Lebensmitteln tat es jene Familie den Familien in der Nachbarschaft gleich und vermehrte sich.
    Zwei Jungen. Denen sehr viel später ein Mädchen folgte.
    Kurz zuvor hatte der Tod Stalin seinen ergebenen Anhängern entrissen. Amerika wachte liebevoll über Westeuropa, wo sechs Länder, allein ihrer Vernunft folgend, daran arbeiteten, ihre Kohle- und Stahlproduktion zu koordinieren.
    Und die Algerier konnten weiter träumen: Aufruhr hin, Aufruhr her, sie würden niemals, niemals unabhängig werden.
    So schien alles zum Besten zu stehen in dieser besten aller Welten.
    Nur die Liebe verstand sich nicht von selbst in dieser französischen Familie. Dafür gab es zahllose Gründe, doch wenn man es recht bedenkt, war der Hauptgrund die Angst. Mehr will ich nicht dazu sagen. Sie wissen so gut wie ich: Angst tötet die Liebe zuverlässiger als jede andere Schlange.
    Kurz, in der Wohnung in der Rue de Vaugirard, EckeBoulevard Pasteur, die die französische Familie bezogen hatte und von der aus man die Pariser Metro oberirdisch vorbeifahren sah, fehlte es an Unbeschwertheit im Alltag.
    Aber diese französische Familie, deren ältester Sohn ich bin, hatte ein Gegenmittel. Sobald die Stimmung zu drückend wurde, legte einer eine Schallplatte auf den Teller des Plattenspielers. Dann hörte die französische Familie französische Chansons. Und das Glück war wieder da: Der Vater lächelte die Mutter an, während diese zärtlich seine Hand hielt. Und die Kinder genossen dieses Bild der Liebe, war es doch der unwiderlegbare Beweis dafür, dass ihr Dasein auf Erden uneingeschränkt erwünscht war. Ab und zu tätschelte einer von uns der Katze Montlhéry den Kopf, wenn sie zu laut schnurrte. Sie war nach der Rennstrecke benannt, auf der mein Vater, ein begnadeter Rennfahrer, an Sonntagen Runde um Runde drehte.
    Léo Ferré, Georges Brassens, Catherine Sauvage, Edith Piaf, Charles Trenet, Juliette Gréco, Stéphane Golmann … Wenn Colette Renard aufgelegt wurde, schickte man uns hinaus: Ihre Texte «waren nichts für Kinder». Ich hörte diese Künstler so oft, dass sie für mich zur Familie gehörten. Vor jedem Weihnachts- oder Geburtstagsessen fragte ich mich, wer von ihnen diesmal seinen Schuh unter den Tannenbaum stellen oder mir helfen würde, die Kerzen auszublasen. Francis Lemarque? Patachou? Henri Salvador?
    Am liebsten hörten meine Eltern Cora Vaucaire.
    Eines Abends, als ich aus dem Bad kam, hörte ich sie tuscheln. «Du bist wirklich verrückt», sagte meine Mutter.«Dann schlafen sie morgen länger», entgegnete mein Vater.
    Und so landeten wir, mein Bruder und ich, in einem winzigen Saal, wo wir von den vielen Erwachsenen erdrückt und vom Rauch ihrer Zigaretten erstickt wurden. Das Cabaret nannte sich
L’Échelle de Jacob
–
Die Jakobsleiter
. Wir waren noch keine zehn Jahre alt. Das Licht ging aus. Auf der Bühne erschien ein Gesicht.
    Frédé, spiel für mich auf deiner Gitarre

die Geschichte von den beiden,

die sich immer lieben …
    Ich wollte mich umdrehen, um meine Eltern anzusehen. Unmöglich: Es waren zu viele Leute, ich konnte mich nicht rühren. Aber es war auch nicht wichtig, ich wusste, dass sie glücklich waren.
    Heute Abend bin ich so geknickt

Liebeslieder sind mein wahres Glück
    Als ich zwanzig Lieder und Geschichten später in die Rue Jacob hinaustrat, war ich krank. Die Krankheit hat mich nie mehr verlassen.
    Mein kleiner Bruder hat Widerstand geleistet. Ohne Zweifel war er weniger wankelmütig. Ohne jeden Zweifel.
    Doch ich habe nachgegeben. In jener Nacht infizierte ich mich, und es sollte Jahre dauern, bis ich begriff, wie diese Krankheit funktionierte.

 
    Â 
    Die beiden Brüder wuchsen heran und wurden immer älter. Sie lebten in derselben Stadt, aber nicht auf derselben Seite des Flusses.
    Ich könnte ihre Vornamen nennen, aber wozu würde Ihnen das nützen? Es sind Allerweltsnamen. Ich will sie lieber danach benennen, wie sie liebten.
    Der ältere Bruder (der, den die
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