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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni
Autoren: Grünschnabel
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still. Auf dem Fensterbrett liegen fünf Briefe, jeder mit Tinte beschriftet. Mein Vater liest vor:
    – Nachbarin, Sohn, Grünschnabel, Schwiegertochter, Die anderen, Versicherung.
    Blass steht die Nachbarin vor meinem Vater; sie ist müde, die schwarzen Augen suchen die Küche ab. Dankbar nimmt sie das Taschentuch meines Vaters an. Er weint, meine Mutter weint, blind kramen sie in ihren Taschen nach weiteren Taschentüchern. Keiner hat daran gedacht, welche mitzunehmen, und meine Mutter reicht ihm eine frische Unterhose aus ihrer Handtasche, er reißt sie in Stücke.
    – Für unterwegs. Man weiß ja nie.
    Die Nachbarin nickt verständnisvoll und schluchzt. Alle schluchzen, sie seufzen, sie gehen Kaffee kochen, rühren darin herum, bis der Kaffee kalt ist, mein Vater wirft weinend wieder etwas aus dem Fenster, das schon lange weg gehört, er berührt die Briefe auf dem Fensterbrett und setzt sich wieder an den Tisch. Die Tür geht, Wind weht herein, Milchschwaden und Käseduft, der Geruch nasser Schafe. Onkel Curdin kommt, keiner weiß, woher, woher er es weiß, dass Tat gestorben ist, kann auch keiner sagen. Welche aus dem Dorf kommen, klopfen sich den Dreck von den Schuhen und setzen sich dazu. Ein Klingeln von Tassen und Löffeln. Keiner will eine Uhr aufziehen, das tut man nicht, sagt die Nachbarin.
    – Legt Holz nach.
    Der Ofen glüht, das Holz knackt, sie hängen den Kandiszucker an Schnüren in den Kaffee; bernsteinfarbene Ketten, an denen sie lutschen. Durchsichtig, von Sprenkeln durchzogen, so warm wie Tats Augen, die er nun geschlossen hält. Beide Backen voll Kandiszucker, schließe ich die Augen, einen kurzen Moment lang ist alles süß.
    Sie zünden Kerzen an. Immer wieder setzt sich einer zu Tat auf die Couch und redet mit ihm, ich muss aufstehen und Platz machen. Meine Mutter ist unruhig. Ihre Hände liegen im Schoß, halten einander fest, die Knöchel sind fast so weiß wie die von Tat.
    – So ein Wind! Er wird uns Tat noch vor der Zeit wegtragen.
    Mein Vater nimmt den Löffel aus der Tasse.
    – Wann ist die richtige Zeit?
    – Im Frieden.
    Es ist das Erste, was Onkel Curdin sagt. Dann erst nimmt er den Hut ab und schaut abwechselnd ins Feuer und zu Tat. Die Nachbarin nimmt meine Hand in ihre.
    – Noch ist er da.
    – Tat ist noch da?
    – Natürlich. Aber er wird uns verlassen.
    – Wann?
    – Bald. Du musst ihm auf Wiedersehen sagen.
    Sie geht in den Wind hinaus und kommt wieder, ihr Haar steht in alle Richtungen weg. Sie bringt die mit, die Tat Nonno nennen. Sie küssen bunte Bilder und legen sie auf seinen Anzug, schieben sie in seine Taschen. Jesus in allen Farben, am Kreuz und im Himmel, Maria und das dicke Kind, das Jesus mal war, liegen auf Tats Kragen.
    Mein Vater sieht es nicht gern.
    – Tat ist nicht mal katholisch. Außerdem hält er das für Mumpitz.
    Die Nachbarin sieht ihn an.
    – Aber die andern nicht. Es geht jetzt um die andern.
    Es ist schon fast Morgen, und die, die ihn Großvater nennen, werden erst am Mittag eintreffen, weil sie nicht so fahren wie mein Vater. Die Churfirsten sind nur auf dem Wasserweg schnell, Frankreich muss sich überhaupt erst sammeln, und Eli wird gar nicht kommen. Die Sonne geht auf, während die Blondierte dreimal anruft und immer meine Mutter verlangt, sie steht zu Hause vor unserem Kleiderschrank, soll Kleider mitbringen und Madame Jelisaweta. Tat braucht noch einmal eine Frisur und den besten Slibowitz.
    Ich brauche Tat.
    Ich brauche das Lexikon der guten Gründe von vorn bis hinten.
    Ich brauche, dass Tat nach mir ruft, und ›Grünschnabel!‹ schreit, dass er seine Hand ausstreckt und zwinkert, die Bernsteinaugen offen hält und flucht, flucht, was das Zeug hält, flucht, dass die Balken sich biegen, die Katzen sich ducken, der Wind aufhört, ja verspricht, die Ziegel zu flicken, die er schon zerbrochen hat, keine Stunde hat er gebraucht dazu. Ich will, dass die Uhren vor Schreck anfangen zu ticken, die Ketten rasseln, die Tannzapfen hüpfen, die Uhren die Stunden aufholen, die sie verschlafen haben. Ich will, dass die Zeiger rennen und die Werke Schmieröl schwitzen, dass ihre Kuckucke in die Zimmer schnurren, die Kuckucke ein ›Kuckuck!‹ aus ihren Schnäbeln spucken und Tat zurück ins Leben; weg von da, wo er jetzt ist, weg.
    Ich will alle seine Flüche hören.
    Den für den Postboten: Buglia ladg!
    Die für die Versicherung: Lumpamenta! Bargada! Bastardaglia!
    Die Menschen, deren Namen er vergessen hat, nicht aber, was sie getan haben:
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