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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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    » D ies, Herr Süden«, sagte der Staatsanwalt, »ist ein Kontaktgespräch. Wir sind allein in diesem Raum, ein übrigens, bei allem Respekt, nicht sehr kommoder Raum; ich wusste nicht, dass Sie Ihre Vernehmungen unter derart beengten Verhältnissen durchführen müssen. Wir sind allein, Herr Süden. Wir haben eine halbe Stunde Zeit. Wenn wir mehr Zeit brauchen, werde ich sehen, was ich tun kann. Nichts wird protokolliert. Im Moment. Herr Süden?«
    Dr. Michael Vester betrachtete mein Schweigen. Sein Blick fixierte meinen Mund, als hätte er anderweitige Absichten.
    »Ja«, sagte ich dann.
    »Ich möchte Sie etwas fragen.« Er hatte die Hände auf dem Tisch übereinander gelegt und klopfte in regelmäßigen Abständen mit dem rechten Daumen auf den linken Handrücken, möglicherweise nicht aus Nervosität oder Ungeduld, es wirkte eher wie ein Tick. »Haben Sie getrunken, diese Nacht?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Wie viel haben Sie getrunken?«, sagte Vester.
    »Fünf Bier«, sagte ich.
    »Fünf Nulldreigläser?«
    »Fünf Flaschen«, sagte ich. Es waren sieben gewesen, aber ich stand nicht unter Eid.
    »Das ist sehr viel«, sagte Vester.
    Sein Daumen hob und senkte sich, wir sahen uns an, vom einen Ende des rechteckigen Tisches zum anderen, wir waren uns vorher noch nie begegnet, und als er heute Morgen um halb acht vor der Tür meiner Wohnung stand, sagte er als Erstes: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.« Dann sagte er: »Leider sind die Umstände wenig erfreulich.«
    Je länger wir inzwischen in dem kleinen Raum mit dem niedrigen Fenster im zweiten Stock des Dezernats saßen, desto unerfreulicher wurden die Umstände. Und ich war der Grund dafür.
    »Wenn es zur Vernehmung kommt«, sagte Vester, »muss ich eine Blutprobe veranlassen. Sie wissen das.«
    »Ja«, sagte ich.
    Es war nicht meine Absicht, einsilbig oder verstockt aufzutreten, ich konnte nicht anders, die halbe Nacht lang hatte ich gesprochen, nun war ich erschöpft und meine Stimme ein ausgehöhltes Organ. Überhaupt befand ich mich an diesem Morgen in einer Höhle tausend Kilometer unter der Oberfläche des Tages, in einer Finsternis so weit jenseits dieses zehnten April, dass ich mir nicht sicher war, ob es mir je wieder gelingen würde, meine Stimme, meinen Schatten, meine Existenz zurückzuerlangen. Nicht einmal Sonja, deren Nähe mich in den vergangenen Stunden vor dem vollkommenen Absturz bewahrt hatte, reichte jetzt noch für eine bescheidene Rettung. Die Wände der Höhle berührten meinen Körper und überzogen meine Haut mit einer Eisschicht.
    Beinah bildete die Gegenwart des Staatsanwalts eine Art gerichtsverwertbaren Beweis dafür, dass es mich noch gab. Durch ihn hatte ich einen Platz in der Wirklichkeit, solange er, irgendwo am Ende eines Tisches, mir gegenübersaß, stellte ich eine Koordinate in einem geordneten, erprobten System dar, man konnte mich sehen und ansprechen und ausfragen und verurteilen. Doch es fiel mir schwer, mich nicht selbst zu verurteilen und wegzusperren und zu vergessen.
    »Hören Sie mir zu?«, fragte Vester.
    »Ja«, sagte ich. »Wenn es sein muss.«
    »Bitte?«
    »Die Blutprobe«, sagte ich.
    »Wir werden sehen.«
    Der Tisch war leer. Vester hatte seine Aktenmappe auf einen Stuhl gelegt und kein Blatt herausgenommen. Und ich war, als er mich gemeinsam mit Karl Funkel und Volker Thon abholen kam, derart abwesend gewesen, dass ich vergessen hatte, meinen kleinen karierten Block und den Kugelschreiber einzustecken. Das war mir noch nie passiert. Die Utensilien gehörten zu meiner Erscheinung wie die an den Seiten geschnürte Lederhose, das weiße Leinenhemd, die Narbe am Hals und die Kette mit dem blauen Stein und dem Adlermotiv.
    Auch hatte ich mich, entgegen meiner Gewohnheit, sofort hingesetzt und war nicht stehen geblieben, hatte mich nicht an die Wand gelehnt, tat, wozu der Staatsanwalt mich aufforderte. Und ich war ihm dankbar.
    »Möchten Sie Mineralwasser trinken?«, sagte er.
    »Nein«, sagte ich.
    »Fühlen Sie sich nüchtern?«
    Ich schwieg.
    »Sie haben die Nacht in Ihrer Wohnung zusammen mit der Kollegin Feyerabend verbracht«, sagte er.
    Ich schwieg.
    »Herr Süden«, sagte er, tippte mit dem Daumen auf seine Hand und sah mich an, eine Minute oder länger, und ich erwiderte seinen Blick. »Ich möchte Sie, obwohl es nicht notwendig wäre, weil Sie das Procedere kennen… Sie sind ein erfahrener Kriminalist, und, wie ich weiß, einer unserer erfolgreichsten, und ich muss nochmal sagen, ich freue
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