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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni
Autoren: Grünschnabel
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das Auge von Toni zuschwellen und entschuldigte sich. Sie sammelte die Hunde ein und schloss leise die Tür, und mein Vater hieß mich, den Kaugummi auszuspucken.
    – Wird’s bald!
    Er klebte ihn bei der Blondierten auf den Spion.
    Er und Toni saßen auf der Treppe nebeneinander, das Licht ging an, es ging aus, es ging wieder an, es flackerte. Wenn Toni stöhnte, während er seinen Kopf hielt, gab ihm mein Vater eine Kopfnuss und nannte ihn abwechslungsweise einen Hurenbock und ein Arschloch, und als Toni einmal etwas sagen wollte, ging er noch einmal auf ihn los. Sie stolperten durchs Treppenhaus, rissen die Makramee-Eulen von den Wänden, verstreuten die Trockenblumen der aufgehängten Gestecke, sie bewarfen sich mit Schuhen, Stiefeln, Schlappen und staubigen Fußmatten, kugelten die Treppe hinunter, und schließlich trat mein Vater gegen Tonis Briefkasten, bis er herunterfiel.
    Ich schlich mich ins Auto, es war kalt, ich zog meinem Teddybär eine Strickjacke über, setzte ihm die dickste Mütze auf, die ihm meine Mutter gestrickt hatte, wartete und schlief ein.
    Als mein Vater endlich kam, war es beinahe dunkel. Der Ärmel seiner Jacke fehlte.
    – Schläfst du? Tut mir leid. Ich musste noch die Schule anrufen. Du bist krank, klar?
    Die Haare voller Heu, fuhr er die Strecke zu Tat in Rekordzeit. Viermal musste er haltmachen. Einmal wegen der Polizei, das zweite Mal, weil er danach kein Geld mehr hatte, und die andern beiden Male, weil ich kotzte. Er sah dabei ins Rauschen der Kiefern und trommelte mit den Fingern aufs Autodach.
    Tats Schlafzimmer war voller Fliegen. Sie kamen aus dem Kuhstall der Nachbarin, um ihn zu besuchen, summten um seinen Kopf und fanden nicht mehr zurück. Er zerkrümelte sie, wenn sie müde wurden und herunterfielen, er wischte die Krümel von der Bettdecke, fragte sich, woher der Ruß kam, wo das Schlafzimmer doch ungeheizt war. Er bat um Milch mit Honig und die Strickjacke.
    Mein Vater wollte die Geschichte hören mit dem Ehepaar, das bei Onkel Curdin während des Krieges gewohnt hatte, die ganze Geschichte. Er wollte es genau wissen, das Davor und das Danach, wie der Rhein floss, wie viel Wasser stand, wie die Nächte waren am Rhein, damals, als Tat die Nächte verschwieg und ganze Tage dazu.
    – Zeigst du uns Fotos?
    – Sei still.
    – Lass sie . – Es gibt keine Fotos aus der Zeit, was denkst du denn, es war immer Nacht, in der ganzen Schweiz war Nacht, sagte Tat, auch tagsüber, eigentlich mag ich gar nicht darüber reden.
    – Warum nicht?
    – Damit kann man auch heute keinen Blumentopf gewinnen. Schau sie dir doch an, wollen die Schweiz sauber halten von allem, was von außen kommt. Wenn du aber schon da bist, könntest du mir zwei Uhren reparieren, sie liegen in der Küche. Hol sie her.
    Mein Vater seufzte.
    – Aber du hast doch welche, die gehen.
    – Aber die in der Küche gehen nicht. Ich brauche sie.
    – Wie geht’s deinen Beinen?
    – Wunderbar. Sie tun beide weh.
    Tat war müde, obwohl er gut schlief, auch mal tagsüber. Seit Tagen schweigt die Tatta, sagte er, sie quengelte nicht mehr, lag ihm mit dem Jordan nicht mehr in den Ohren. Sie ließ ihn schlafen, ließ ihn in Ruhe sitzen; im Garten zog Tat schon mal wieder ein Bein aus, sah den Krokussen beim Wachsen zu und rieb sich den Stumpf.
    Tat hatte auf die Grenze am Rhein aufgepasst. Das war sein Beruf. Der Rhein war nicht dicht, nicht sein alter Arm, wie er sagte, nicht im Krieg, den Herr Hitler angezettelt hatte; den Krieg, in den auch meine Mutter und ganz Frankreich verwickelt waren. Die Schweiz hatte Angst, dass sie auch verwickelt wird, sie hielt sich raus und hätte gern gar nichts hereingelassen, das nicht aus Gold war, sagte Tat.
    Was nachts herüberwatete und -schwamm, war allerdings schon vor dem Krieg nicht aus Gold, sagte er, es war nass, es schnaufte, es fror, es zitterte, es rief nach der Mutter oder dem Sohn oder der Frau, man musste ihnen den Mund zuhalten, wenn einer fehlte, und manchmal kamen sie auch allein. Die sagten nichts, blieben tagelang stumm, aßen kaum und ließen alles mit sich geschehen, nur umkehren wollten sie nicht. Die meisten von ihnen waren Menschen namens Juden . Wenn sie in der Schweiz angekommen waren, nannte Tat sie Flüchtlinge . Als Herr Hitler später anfing, sie in ganz Europa einzusammeln und sich herumsprach, dass er es tat, um sie zu töten und um ihnen die Goldzähne zu ziehen, versuchten sie erst recht, bei Tat über die Grenze zu kommen, und er konnte nicht nein
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