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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni
Autoren: Grünschnabel
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Autofahren schieß ich Wörter mit links, wir sammeln alle ein. Frühlingsregen, Gewitterregen, Sprühregen. Geschmolzenen Schnee. Nebel . Wir nehmen alle mit nach Hause. Wind! Morgenwind, Abendwind, Schneewind . Und der hier: Wind, der in keinem Baum zu sehen ist, bloß zu spüren, wenn du die Hand bis zum Ellenbogen aus dem Fenster hängen lässt. Versuch es.
    Ich griff aus dem Fenster, und er gab Gas. Sie schüttelte den Kopf.
    – Vorsicht, der Gegenverkehr!
    – Wo denn?, lachte er.
    Manchmal fuhr er an den Straßenrand und schrieb mir ein Wort auf. Er fuhr oft an den Straßenrand und schrieb das Wort auf einen Streichholzbrief, auf einen Briefumschlag, auf einen Kassenzettel, eine leere Zigarettenpackung, und wenn er nichts dergleichen fand, musste ich die Hand ausstrecken, er schrieb es auf die Innenfläche und buchstabierte es. Ich behielt das Wort in der Hand, ich behielt es im Ohr, und zu Hause schnitt ich jedes einzelne aus, malte es von der Hand ab und sortierte alle in Streichholzschachteln. Er beschriftete sie. So konnten sie nicht verloren gehen. Er bewahrte sie in Büchern auf: Die Eisenbahnen der Welt , Die kalte Küche , Die 7 Weltmeere , Wildtiere im Kongo und Edelsteine und Romane, manche in zwei Sprachen. Die zweite sprach er selten. Nur wenn er sich mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen hatte und wenn wir in die Berge fuhren und von dort in ein Tal. Zu Tat, der überall sonst Großvater hieß oder Nonno.
    – Diamanten waren mal Holz, stell dir vor. So gesehen, sagte er, verheizen wir unser Kapital .
    Später legte ich KAPITAL in eine Streichholzschachtel, in eine andere als FLUGZEUG.
    – KAPITAL, hatte mein Vater gesagt, leg in SPÄTER, FLUGZEUG zu JETZT. WIND und REGEN leg in IMMER.
    – IMMER ist wann?
    Bei IMMER riss ihr der Geduldsfaden. Sie warf die Zigarette aus dem Fenster und schrie ihn an, dass man auch für die Muttersprache nicht so viel Benzin verbrauchen muss. Er fuhr wieder an den Straßenrand und knetete das Lenkrad.
    – Und? Hast du eine bessere Idee?
    – Kauf ihr eine Brille, Herrgott.
    Die Chefin hatte gesagt, dass Mütter naturgemäß näher an der Praxis sind, auch wenn sie mit der dann nicht zurechtkommen und sie im Heim abgeben. Aber sie haben sich immerhin neun Monate damit herumgeschlagen.

Wir wohnten etwas …
    W IR WOHNTEN ETWAS AUSSERHALB der Stadt, direkt an der Straße. Die Häuser waren so schlecht wie die Zähne meines Vaters, und ein Fahrstuhl kam für den Vermieter nicht in Frage. Er sagte, er ist nicht Mutter Teresa, und meine Mutter maulte, dass das Haus nur noch vom Putz zusammengehalten wird und von der Geldnot der Bewohner. Aber es war billig, dort zu wohnen, und aufs Billige waren wir angewiesen, weil mein Vater ein Trottel war und kein guter Geschäftsmann. Das hatte weder meine Mutter noch der Rest der Verwandtschaft gleich gemerkt. Vielleicht waren auch sie durch die Tür in eine Familie gekommen, und da konnten sich Entwicklungen eben hinziehen.
    Mein erster Geburtstag im Haushalt fiel mit einem Todesfall aus dem Erdgeschoss zusammen. Der Tod hatte die Nachbarin geholt. Vorsichtshalber versteckte ich mich, um ihm nicht auch begegnen zu müssen. Die dicke Köchin Helene hatte gewarnt davor, dass der einem über den Weg laufen kann und man danach nicht mehr dieselbe ist.
    – Nichts findet man mehr, hatte sie gesagt, nicht mal mehr den eigenen Namen.
    Meine Mutter klaubte mich im Morgengrauen unter dem Bett hervor und sagte:
    – Komm mit, es ist nichts dabei. Sie hat ihn erwartet. Pietät: Das ist jetzt das Wichtigste.
    – Was ist das?
    – Die Ruhe bewahren.
    Im Käfig schaukelte der Vogel der Nachbarin und sang, so laut er konnte. Mein Vater nickte mir zu.
    – Wo warst du denn?
    Er schaukelte auf einem Stuhl vor der Nachbarin, die klein und ein bisschen geschrumpft in ihrem Sessel saß, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Er wischte sich Tränen vom Gesicht.
    – Seite zweiundfünfzig.
    – Was?
    – Bis Seite zweiundfünfzig ist sie gekommen . – Morgen hätten wir die Via Mala gemacht.
    – Wie denn?
    – Wenigstens mit dem Feldstecher.
    Zu gern hätte er die Nachbarin ins Grüne gefahren. Einmal im Monat machte er das, seit ihre Beine den Geist aufgegeben hatten. Ich fuhr jedes Mal mit, denn die Nachbarin buk einen grandiosen Kuchen, den sie Strudel nannte, über den er während jeder Fahrt alles wissen wollte, über den Teig, über die Äpfel und die Kirschen oder den Mohn darin, über den Quark, den sie Topfen nannte, während mir
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