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Die Hexe

Die Hexe

Titel: Die Hexe
Autoren: Vadim Panov
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PROLOG
    Moskau, 1934
     
     
    In jener Nacht fiel der erste Schnee. Wie ein routinierter Maler warf er mit dünnen Pinselstrichen eine flüchtige Skizze über die Stadt – nur ein Vorgeschmack auf das bevorstehende winterliche Meisterwerk. Ein zarter weißer Schleier bedeckte das Grau der Moskauer Bürgersteige, überzuckerte diskret die Dächer der schweigsamen Häuser und verhüllte zärtlich die noch belaubten Baumkronen.
    Der erste Schnee in der Stadt ist kurzlebig. Schon nach wenigen Stunden bleiben vom jungfräulichen Weiß nur traurige Pfützen und frierende Passanten rümpfen die Nase über die nasskalte Heimsuchung.
    Doch selbst anfangs, als der frische Schnee sich noch nicht in ein tauendes Missverständnis verwandelt hatte, schenkten die Moskauer Bürger seiner vergänglichen Pracht keine Beachtung. Ihre Aufmerksamkeit galt weit weniger romantischen Geschehnissen.
    »Das werden sie nicht wagen!«, ereiferte sich ein bärtiger Einarmiger in einem verwaschenen Feldhemd.
    »So ein Juwel zu zerstören – das ist Sünde!«, pflichtete dem Invaliden ein glatzköpfiger Greis bei.
    »Das ist diesen Ungläubigen doch egal«, gab eine ältere Dame mit buntem Kopftuch zu bedenken. »Die fürchten sich nicht vor der Sünde.«
    »Sehr richtig!«, posaunte ein ausgemergelter Hauswart. »Das gottlose Gesindel spuckt auf das Kreuz!«
    »Schrei nicht so!«, zischte seine beleibte Gattin ihn an. »Am Ende hören sie dich noch!«
    »Na und?!«
    »Ich würde das lieber nicht so laut sagen«, warnte der Greis kopfschüttelnd. »Sie wären nicht der Erste, der wegen solcher Äußerungen auf den Solowki-Inseln landet.«
    »Pah, ich habe keine Angst vor denen!«, tobte der Hauswart weiter. »Die sollen ruhig hören, was ich von ihnen halte!«
    »Sie sind wohl lebensmüde?!«
    »Beruhige dich, Potapytsch. Im Moment haben sie nun mal die Macht.«
    Das Gespräch verstummte und alle Blicke richteten sich wieder auf den Sucharew-Turm, der sich erhaben in den grauen Herbsthimmel reckte. Rund um das beeindruckende Bauwerk hatte sich ein dichter Ring von NKWDlern postiert – blau uniformierte Figuren, fast alle gleich groß und alle in derselben Pose: breitbeinig und das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett auf die Menschenmenge gerichtet. In ihrer Gleichförmigkeit wirkten diese Gestalten unwirklich und leblos, so als hätte derselbe Maler, der Moskau ein dezentes Winterkleid verpasst hatte, einen blauen Lattenzaun um den Turm gemalt. Und für einen Moment schien es, als würde die silhouettenhafte Palisade dahinschmelzen wie der erste Schnee und sich als grauer Matsch den Moskauer Bürgern zu Füßen legen. Doch der Schein trog. NKWDler pflegten nicht einfach wegzutauen und der glühende Hass, der unter ihren tief in die Stirn gezogenen Schirmmützen loderte, war der beste Beweis für ihre Realität. Doch auch die Blicke, mit denen die Moskauer die Ordnungshüter bedachten, strahlten alles andere als Wohlwollen aus.
    »Wieso haben sie den Sucharew-Turm besetzt?«, erkundigte sich ein nicht ganz nüchterner Arbeiter. »Hat er was Schlimmes über die Kommunisten gesagt?«
    Niemand antwortete ihm, doch die Frage brannte allen unter den Nägeln.
    Was führten die NKWDler im Schilde?
     
    »Die Sache endete damit, dass die Handelsgilde dem Orden einfach eine Rechnung gestellt hat – als Schadensersatzforderung für die verlorene Ware.« Der mit einer Militäruniform bekleidete alte Mann mit den braunen Mandelaugen schüttelte entrüstet den Kopf. »Ganz schön unverschämt, diese Schatyren, finden Sie nicht?«
    Bei dem alten Mann handelte es sich um den Kriegsmeister Frederic de Lieu, den höchsten Kriegsmagier des Herrscherhauses Tschud, und seine temperamentvolle Erzählung richtete sich in erster Linie an die schöne Susanna. Die bezaubernde Fate des Grünen Hofs, die einen einfachen schwarzen Rock und eine in der schmalen Taille gegürtete Jacke trug, lächelte ihm höflich zu. Ein rotes Kopftuch verhüllte Susannas prächtiges goldblondes Haar, dafür betonte es ihr hübsches Gesicht, dessen kindlich-naive und zugleich kesse Züge Männern jeden Alters den Kopf verdrehten. Susanna war noch jung – erst fünfunddreißig Jahre alt – und stand damit nach den Maßstäben des Herrscherhauses Lud erst ganz am Anfang ihrer Blüte. Trotz ihrer Jugend hatte sie bereits den Rang einer Fate erworben und genoss großes Ansehen bei Hof. Nicht zuletzt die Königin hatte eine hohe Meinung von ihr und der charmanten Zauberin wurde eine
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