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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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sagte sie.
    Mary schaute in den Wagen. Tansey saß immer noch auf dem Rücksitz.
    »Kommst du nicht raus?«
    »Nein«, sagte Tansey. »Mir geht’s prima hier drin.«
    »Oh«, sagte Mary. »Okay. Soll ich die Tür zumachen?«
    »Tu das.«
    Mary streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
    »Aber bevor du das tust«, sagte Tansey, »wäre da noch eine Sache.«
    »Ja?«
    »Denk an die Blätter in den Bäumen.«
    »Ist das alles?«
    »Ja, das wär’s«, sagte Tansey. »Braves Mädchen. Ich bin so stolz auf dich, Mary. Jetzt mach die Tür zu.«
    Mary schloss die Tür. Sie musste sie zuschlagen. Sie klopfte gegen die Scheibe.
    »Ich wollte sie nicht knallen«, sagte sie.
    Sie hörten Tansey durch die Scheibe.
    »Du bist großartig.«
    Sie packten den Rollstuhl aus und begaben sich ins Krankenhaus. Sie nahmen den Lift, der sie langsam nach oben auf Emers Station brachte. Sie halfen ihr aus dem Mantel und ihrem Morgenmantel.
    Emer sah sehr müde aus.
    »Ich bin wirklich reif fürs Bett«, sagte sie. »Ich sehe bestimmt aus, als hätte ich die ganze Nacht durchgemacht.«
    »Also, irgendwie hast du ja auch die ganze Nacht durchgemacht.«
    »Na dann. Geht mir mal zur Hand, Mädels. Ich mag ein Mädchen wie ein Windhund sein, aber, lieber Gott, das Bett ist in die Höhe geschossen, seit ich gestern Nacht rausgeklettert bin.«
    Sie halfen ihr auf das Bett. Sie legte sich hin, bedächtig, vorsichtig, und sie murmelte dabei.
    »Feiner Rücken, braver Rücken, komm mir bloß mit keinen Tücken!«
    Ihr Kopf sank langsam in die Kissen.
    »Landung erfolgreich.«
    Mary setzte sich zu ihr auf die Bettkante und sie plauderten eine Weile. Scarlett nahm gegenüber Platz.
    »Aber Großmutter«, sagte Mary, »warum hast du so große Augen?«
    »Damit ich dich besser fressen kann, mein Schätzchen.«
    Scarlett machte einen Finger feucht und rieb damit ihrer Mutter über die Nasenspitze.
    »Was, in Gottes Namen, sollte das denn jetzt?«
    »Da war noch ein Klecks Eiskrem, schon ganz festgetrocknet!«
    »Eiskrem?«, sagte Emer. »Ach ja. War das heute Nacht?«
    Mary streckte eine Hand aus und zeigte auf den hellen Tag draußen vor dem Fenster.
    »Letzte Nacht«, sagte sie.
    »Wir sind tollkühn«, sagte Emer. »Oder etwa nicht?«
    Noch während sie sprach, schloss sie die Augen und schlief ein.
    Mary und ihre Mutter warteten, dann ließen sie sich langsam vom Bett gleiten. Sie beugten sich beide über Emer und drückten ihr einen Kuss auf die Stirn.
    Dann gingen sie.
    Als sie draußen beim Wagen ankamen, erwachte das Krankenhaus zu geschäftigem Leben, und Tansey war fort.

Mary wachte auf. Sie lag in ihrem eigenen Bett, zu Hause. Das Licht war ausgeschaltet, aber die Vorhänge waren geöffnet. Deshalb erkannte sie ihre Mutter, ihren Vater und ihre Brüder neben ihrem Bett.
    Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.
    »Du hast den ganzen Tag über geschlafen«, sagte ihre Mutter.
    »Echt?«
    »Ja.«
    Ihre Mutter setzte sich neben sie.
    »Deine Großmutter ist von uns gegangen«, sagte sie.
    »Wohin denn?«, sagte Mary.
    Dann begriff sie.
    Sie umarmte ihre Mutter und ihren Vater. Sie umarmte sogar ihre Brüder. Das Zimmer war erfüllt von Schluchzern und Schnäuzern und Seufzern.
    Mary umarmte Scarlett noch einmal. Sie spürte, wie unter Scarletts Tränen eine Seite ihres Gesichts feucht wurde.
    Sie ließ Scarlett los und stieg aus dem Bett. Sie trat ans Fenster. Scarlett folgte ihr und sie schauten beide nach draußen, in den Abend und in die sich wiegenden Bäume. Die Straßenlampen erhellten die Blätter, und als ein Wagen vorbeifuhr, schienen dessen Scheinwerfer sie zum Tanzen zu bringen. Sie sahen zu, wie die Blätter sich auf und ab bewegten und die Äste hin und her schwangen.
    Scarlett öffnete das Fenster und jetzt konnten sie die Blätter rascheln hören. Sie konnten sich einbilden, Stimmen und Gelächter von Leuten zu hören, die sich, ungesehen von ihnen, zwischen den Blättern bewegten.
    Sie weinten und sie lächelten.
    »Was macht ihr denn da?«, sagte Marys Vater.
    »Wir lauschen Oma und Tansey«, sagte Mary.
    »Wer ist Tansey?«
    »Das erklären wir dir später«, sagte Scarlett.
    Sie standen dort, hielten sich noch ein Weilchen aneinander fest und weinten.
    Dann kam Mary eine glänzende Idee. Sie ließ ihre Mutter los und wischte sich über die Nase.
    Sie sprach.
    »Ich will einen Windhund«, sagte sie.

© Roddy Doyle
    Roddy Doyle, 1958 in Dublin geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter der neueren irischen Literatur.
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