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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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vorsichtig absteigen. Sobald Emer stand, legte sie ihrer Tochter die Arme um die Hüften.
    »Lasst uns ruhig weinen«, sagte sie. »Aber irgendwann hören wir damit auf. Es ist schließlich nur ein Haus.«
    »Sie hat recht«, sagte Tansey. »Es ist ein Jammer, ein einziger Jammer, aber damit hat es sich dann auch.«
    Sie stand beim Gatter und schluchzte – obwohl Geister das angeblich nicht können sollten. Und Mary begriff: Es war nicht das alte Haus, um das sie weinten. Nicht wirklich. Sie weinten um sich selbst, um ihre Anfänge und um ihre Enden. Heute Nacht waren sie zu viert, aber wer wusste schon, wie viele sie morgen Nacht noch sein würden? Zwei von ihnen hatten früher in diesem alten Haus ohne Dach gelebt. Zwei von ihnen lebten heute in einem völlig anderen Haus, einem Haus mit Dach, in Dublin.
    Dinge änderten sich.
    Vier von ihnen standen beisammen, hielten einander fest. Aber nur drei von ihnen waren tatsächlich lebendig.
    Sie weinten und dann hörten sie damit auf.
    »Auch keine Windhunde mehr«, sagte Emer.
    »Du hast die Windhunde nie gemocht«, sagte Tansey.
    »Ach was, so schlimm waren sie gar nicht«, sagte Emer. »Und jetzt sind sie ja weg. Trotzdem, auch wenn sie mir Angst eingejagt haben, fände ich es schöner, sie jetzt hier zu sehen, als sie nicht zu sehen. Doch, bestimmt.«
    Sie zog Mary an sich und umarmte sie. »So ist das Leben.«

Bis sie wieder beim Wagen ankamen, war es drei Uhr morgens.
    »Müde?«
    »Ja.«
    »Nein.«
    »Wisst ihr, was?«, sagte Emer vom Rücksitz, während Tansey ihr beim Anschnallen behilflich war. »Ich bin so müde, wie es nur menschenmöglich ist. Trotzdem hätte ich jetzt Lust, ein bisschen Seeluft zu schnuppern. Also, Scarlett, geliebte Tochter –«
    Mary beobachtete, wie das Grinsen ihrer Mutter immer größer wurde und schließlich das ganze Gesicht einnahm.
    »Ja, Mama?«
    »Kannst du die See zu uns ranschaffen?«, fragte Emer. »Oder wäre es einfacher, dorthin zu fahren?«
    »Fahren wir!« Scarlett startete den Wagen. »Das liegt sowieso auf dem Heimweg!«
    »Gibt’s dort Kurven?«, fragte Tansey.
    »Ja!«, sagte Scarlett. »Und Abbiegungen!«
    »Noch mehr Abbiegungen«, sagte Emer. »Die bringen mich um.«
    Mary hörte die beiden alten Frauen auf dem Rücksitz lachen, als ihre Mutter auf der leeren Straße den Wagen wendete.
    »Courtown!«, sagte ihre Mutter. »Wie klingt das?!«
    »Courtown hab ich immer gemocht.«
    »Und Courtown hat auch dich immer gemocht, Emer.«
    »Warst du je mit mir in Courtown?«, fragte Emer Tansey.
    »Nur ein einziges Mal«, sagte Tansey. »Zu dritt, gemeinsam mit deinem Vater. Bevor Baby James – Entschuldigung, James der Mann – auf die Welt kam.«
    »War es schön?«
    »Oh, das war es. Wir hatten dort eine großartige Zeit zusammen. Obwohl du mit deinem Sandwich nach einer Möwe geworfen hast.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich.«
    »Hab ich sie getroffen?«
    »Hast du«, sagte Tansey. »Genau am Kopf. War aber nicht schlimm. Sie hat das Sandwich aufgepickt und ist damit davongeflogen, es war ihr nichts passiert. Und du bist ihr nachgerannt und wolltest das Sandwich zurückhaben. Und dann bist du hingefallen, und du hast dermaßen gebrüllt! Halb Wexford hat gedacht, die Engländer würden wieder anrücken, um die Stadt zu besetzen.«
    Sie lachten und kicherten, dann hielten sie inne. Mary wandte sich um und sah, dass ihre Großmutter eingeschlafen war. Ihr Kopf lehnte gegen Tanseys Schulter. Tansey lächelte ihr zu und Mary lächelte zurück. Dann blickte Mary in den Rückspiegel und sah, dass ihre Großmutter sich gegen ein Nichts lehnte.
    »Merkwürdig.«
    »Was denn?!«
    »Fast alles.«
    Emer verpasste alle Kurven und Abbiegungen nach Courtown – es dauerte etwa vierzig Minuten dorthin. Aber sie erwachte, als Scarlett den Wagen anhielt, auf einem Parkplatz direkt am Meer.
    »Oh, seht doch.«
    Der Mond zog eine silberne Spur über das Wasser, den ganzen Weg von der Irischen See bis nach Wales.
    »Das sieht aus wie eine magische Straße.«
    »Zu geradeaus für meinen Geschmack.«
    Sie saßen eine Weile dort, dann stiegen sie aus dem Wagen und gingen über eine kleine Brücke, überquerten eine weitere schmale Straße und bestiegen zuletzt eine Treppe – Mary half ihrer Großmutter über die Stufen –, um die See richtig sehen und riechen und den Wind spüren zu können. Die Luft war frostig, aber auszuhalten. Mary und Scarlett hatten ihre Jacken an, Emer trug ihren Morgenmantel unter dem dickeren Mantel – und
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