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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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Mary O’Hara ging über die Straße auf das Haus zu, das sie mit ihren Eltern und ihren Brüdern bewohnte. Unten, am Fuß des Hügels, hatte der Schulbus sie abgesetzt. Die Straße war lang, führte geradeaus und steil bergan, zu beiden Seiten von mächtigen alten Kastanienbäumen gesäumt. Es regnete, aber Mary wurde, weil Laub und Äste sie wie ein Dach beschützten, kaum nass. Wobei sich um Regen und Nässe ohnehin nur Erwachsene Gedanken machten, aber nicht Mary – oder überhaupt irgendwer unter einundzwanzig. Mary war zwölf. Sie würde noch acht Monate lang zwölf bleiben. Dann würde aus ihr das werden, als was sie sich schon längst fühlte – eine Teenagerin.
    Sie kam fast jeden Tag zur selben Zeit zu Hause an, normalerweise in Begleitung ihrer besten Freundin Ava. Aber heute war es anders, denn Ava war nicht dabei. Ava war tags zuvor mit ihrer Familie in einen anderen Teil von Dublin gezogen. Nachbarn, die heute aus dem Fenster schauten, sahen Mary allein. Als Leute, die aus Fenstern schauten, wussten sie natürlich Bescheid. Sie hatten den Möbelwagen vor Avas Haus gesehen. Sie hatten gesehen, wie Mary und Ava sich umarmten, und sie hatten Ava ins Auto steigen und dem Möbelwagen folgen sehen. Während das Auto langsam die Straße entlangfuhr, hatten sie Mary winken und dann in ihr Haus laufen sehen. Vermutlich hatten sie die Haustür krachend zuschlagen hören. Vielleicht hatten sie sogar Marys nach oben stürmende Schritte gehört, und wie die Sprungfedern der Matratze stöhnten, als Mary sich auf ihr Bett warf. Was sie vermutlich nicht gehört hatten, war Marys Weinen, und ganz sicher nicht das leisere Geräusch der Sprungfedern kurz darauf, als Mary begriff, dass nicht nur ihr Herz gebrochen, sondern dass sie auch wahnsinnig hungrig war. Also stand sie auf, ging runter in die Küche und futterte, bis sie kaum noch ihr Gesicht bewegen konnte.
    Heute ging Mary allein den Hügel hinauf. Sie war schon fast zu Hause. Nur noch ein paar Häuser, und sie war bei ihrem eigenen angekommen. Für einen Moment klaffte eine Lücke zwischen den Bäumen, sodass sie von Regentropfen getroffen wurde. Aber das fiel ihr weder auf, noch kümmerte es sie.
    Irgendwer hatte ihr mal erzählt, dass Menschen, die ihre Beine verloren hatten, auch nach langer Zeit die Beine trotzdem noch spüren konnten. Sie verspürten ein Jucken, und wenn sie sich kratzen wollten, war da kein Bein mehr. So fühlte sich Mary. Sie spürte, wie Ava neben ihr herlief. Sie wusste, dass das nicht stimmte, aber sie schaute trotzdem nach ihr – und das macht es nur schlimmer.
    Mary wusste: Ava war irgendwo anders in Dublin, nur sieben Kilometer entfernt. Aber wenn sie jetzt Schauspielerin in einem Film oder am Theater gewesen wäre und jemand ihr befohlen hätte zu weinen, hätte sie nur an Ava denken müssen, und das Weinen wäre ihr leichtgefallen. Wut zu empfinden und wütend auszusehen, wäre ihr genauso leichtgefallen. Mary verstand einfach nicht, warum Leute umzogen. Es war dumm. Und sie verstand nicht, warum Eltern – Avas Eltern – Nein sagten, wenn zwei Freundinnen – Mary und Ava – fragten, ob es okay wäre, wenn eine von ihnen – Ava – nicht mit umzog, sondern stattdessen bei der anderen Freundin – Mary – einzog.
    »Wenn sie bei uns wohnt, müssen Sie ihr nichts mehr zu essen kaufen«, hatte Mary am Tag vor dem Umzug zu Avas Mutter gesagt. »Echt, Sie sparen ein Vermögen.«
    »Nein.«
    »Schon wegen der Wirtschaftskrise und so.«
    »Nein.«
    »Warum denn nicht?«, hatte Ava gefragt.
    »Weil du unsere Tochter bist und weil wir dich lieben.«
    »Dann seien Sie großmütig und lassen Sie sie bleiben«, sagte Mary. »Ich meine, wenn Sie sie wirklich, wirklich lieben. Das ist nicht witzig.«
    »Ich weiß«, sagte Avas Mutter. »Es ist einfach bloß so goldig.«
    Was genau die Art Blödsinn war, den Erwachsene von sich gaben. Sie sahen, wie zwei beste Freundinnen sich aneinanderklammerten und lieber sterben als getrennt sein wollten – und fanden das goldig.
    »Ich schätze, dann halten Sie Krieg und Hunger auch irgendwie für goldig, oder?«, sagte Mary.
    »Das ist jetzt ein bisschen unhöflich, Mary«, sagte Avas Mutter.
    »Und wenn schon«, sagte Mary.
    Sie hatte vor Avas Haustür gestanden und versucht, sie laut zuzuschlagen. Aber das funktionierte nicht. Im Flur lag ein dicker Läufer, der den unteren Türrahmen abzufedern schien. Also hatte sie stattdessen gebrüllt.
    »Rumms!«
    Und sie war nach Hause gestürmt, wo das
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