Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
Vom Netzwerk:
den Händen auf eine Gartenmauer und stemmte sich hinauf. Es war eine schnelle und mühelose Bewegung, sie keuchte nicht und sie stöhnte nicht. Sie saß da, als wäre das für einen Erwachsenen die natürlichste Sache der Welt.
    »Komm schon rauf«, sagte sie zu Mary und klopfte auf den Platz neben sich.
    Mary stellte ihre Schultasche ab und erklomm die Mauer. Sie war eine gute Kletterin, auch wenn sie so etwas eigentlich längst nicht mehr machte. Es lag Jahre zurück, dass sie zuletzt auf eine Mauer geklettert war. An das letzte Mal konnte sie sich gar nicht erinnern.
    Sie setzte sich neben die Frau.
    »Welchen haben Sie lieber?«, sagte sie.
    »Was?«
    »Tansey oder Anastasia?«
    »Oh«, sagte die Frau. »Ich war immer nur Tansey. Niemand hat mich je Anastasia genannt.«
    Sie redete so, wie es Marys Großmutter manchmal tat, als erinnerte sie sich an etwas, ja, geradezu als sehe sie etwas, das vor sehr langer Zeit oder weit, weit entfernt passiert war.
    »Vermutlich war der Name zu lang«, sagte die Frau. »Bevor ihn jemand komplett ausgesprochen hätte, wäre ich längst über alle Berge gewesen. Ana-sta-siiii-aaaahh. In der Zeit bin ich mit dem Fahrrad schon fast in Gorey.«
    Sie lächelte Mary zu.
    »Und, ist das nicht nett?«
    »Ja«, sagte Mary.
    »Wirst du heute deine Großmutter besuchen?«, fragte die Frau.
    »Klar«, sagte Mary. »Glaub schon.«
    »Hast du ihr gestern meine Nachricht übermittelt?«
    »Welche Nachricht?«
    »Ich bat dich, ihr mitzuteilen, dass alles ganz großartig werden wird.«
    »Hab ich vergessen«, sagte Mary.
    Für etwa eine halbe Sekunde wirkte die Frau verärgert. Es war merkwürdig: Ihr Gesicht wurde wieder normal, aber der verärgerte Ausdruck lag direkt dahinter, als wären zwei Masken, eine glückliche und eine traurige, aufeinandergelegt worden, um eine gemeinsame Maske zu ergeben.
    »Heute wirst du daran denken«, sagte sie.
    »Klar«, sagte Mary.
    »Sag ihr, dass Tansey ihr das ausrichten lässt.«
    »Kennt Großmutter Sie?«
    »Tut sie«, sagte die Frau. »Tat sie. Nun, ich schätze, du hast noch Hausaufgaben zu erledigen, oder?«
    »Sicher«, seufzte Mary.
    »Armes, leidendes Wesen«, sagte die Frau. »Dann gehst du jetzt besser rein und bringst das hinter dich.«
    »Okay«, sagte Mary.
    »Morgen um dieselbe Zeit?«, sagte die Frau. »Oder schlenderst du dann nicht hier vorbei?«
    Mary lachte. Ihr gefiel die Ausdrucksweise der Frau. Dass sie noch vor einer Minute nervös gewesen war, hatte sie vergessen. Und sie hatte vergessen, dass sie immer noch nicht wusste, wo die Frau wohnte.
    Sie hüpfte von der Mauer und griff nach ihrer Tasche.
    »Ich schlendere dann hier vorbei«, sagte sie im Davongehen und versuchte, wie die Frau zu klingen. Sie drehte sich um, weil sie wissen wollte, ob es der Frau aufgefallen war oder ob sie es überhaupt verstanden hatte. Aber die Frau war nicht mehr da.
    Oder doch, war sie.
    Es war wie ein Fernsehbildschirm im Sonnenlicht. Das Kleid der Frau, überhaupt alles an der Frau, war verblasst, farblos geworden. Dann, blitzschnell, als wäre ein Vorhang gegen das Tageslicht zugezogen worden oder als hätte eine Wolke sich vor die Sonne geschoben, waren die Frau und ihre Farben wieder scharf und deutlich zu sehen.
    Mary blickte auf; die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden.
    »Tschüs dann«, sagte Mary.
    »Wiedersehen«, sagte die Frau.
    Mary ging los, aber sie blickte noch einmal über die Schulter.
    »Ich bin noch hier«, sagte die Frau. »Heute gibt es diese langen Dinger, oder? Zum Mittagessen.«
    Mary überlegte eine Weile.
    »Spaghetti«, sagte sie. Es fiel ihr wieder ein: Heute, am zweiten Tag ihres Chefköchinnen-Projekts, würde sie Spaghetti kochen.
    »So nennt man die?«, sagte die Frau.
    Mary lachte.
    »So nennt man die«, sagte sie.
    »Sehen aber merkwürdig aus«, sagte die Frau.
    »Sie sind lecker.«
    »Dann bis morgen«, sagte die Frau.
    »Ja, dann bis morgen«, sagte Mary.
    Sie ging den Weg bis nach Hause, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie holte den Schlüssel aus ihrer Schultasche und öffnete die Haustür.
    »Mary!«
    »Hi.«
    »Wie war’s in der Schule?«
    »Dämlich.«
    Spaghetti Bolognese zu kochen war einfach. Ihre Mutter zeigte Mary einen Trick. Sie fischte eine Nudel mit einer Gabel aus dem sprudelnden Wasser.
    »Jetzt pass auf!«
    Sie nahm die Nudel von der Gabel und hielt sie eine Sekunden zwischen den Fingern. Dann warf sie sie gegen die Wand. Die Nudel blieb dort kleben.
    »Fertig!«, sagte Scarlett.
    Mary
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher