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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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Mutter. »Wir sind alle große Mädchen.«
    »Wie fühlst du dich heute?«, sagte Mary.
    »Also, na ja«, sagte ihre Großmutter, »es ging mir schon besser. Die Zeiten meines eigenen Wachstums sind vorüber. Immerhin, das Bett ist wirklich hervorragend gemütlich. Was hast du heute in der Schule gemacht?«
    »Nichts.«
    »Nichts?«, sagte ihre Großmutter. »Das war immer mein Lieblingsfach. Im Nichtstun war ich immer gut. Klassenbeste, jedes wunderbare Mal.«
    Dann schlief sie ein. Und auch das war furchterregend, wie schnell, wie leicht ihre Großmutter in den Schlaf fiel – stürzte. Es geschah immer ganz plötzlich, als hätte jemand den Stecker gezogen, kein Gähnen oder Lächeln, nur dieser unvermittelte Sturz. Mary küsste ihre Großmutter auf die Stirn. Dann kletterte sie wieder vom Bett herunter. Scarlett küsste ebenfalls die Stirn. Und Großmutters Augen öffneten sich.
    »Ich habe Angst, Scarlett«, sagte sie sehr ruhig.
    »Das ist in Ordnung.«
    »Ich habe Angst davor, dass ich irgendwann die Augen nicht mehr aufmache.«
    »Ich weiß«, sagte Scarlett. »Aber gerade eben hast du sie wieder geöffnet.«
    »Das stimmt«, sagte ihre Mutter. »Ich bin noch nicht tot.«
    »Nein«, sagte Scarlett und lächelte. »Bist du nicht.«
    »Dann mal los«, sagte Marys Großmutter.
    Und schloss ihre Augen.
    Und öffnete sie.
    »Wollte nur sichergehen«, sagte sie.
    Sie schloss sie wieder.
    »Geht ruhig«, sagte sie. »Mir geht’s gut. Ich bin noch zu lebendig, um heute schon zu sterben.«
    Ihre Augen blieben geschlossen. Sie beobachteten ihr Atmen, das kleine Lächeln auf ihrem alten Gesicht. Sie schlief.
    Und sie gingen.
    »Was genau stimmt mit Oma eigentlich nicht?«, fragte Mary auf dem Rückweg zum Auto.
    »Es ist nichts Besonderes«, sagte ihre Mutter. »Sie ist sehr alt, weißt du. Niemand lebt ewig.«
    »Warum nicht?«
    Ihre Mutter sah Mary an.
    »Wir tun es nun mal nicht«, sagte sie. »Wir sind sterblich. Du weißt doch, was das bedeutet.«
    »Sicher«, sagte Mary. »Es kommt mir bloß so gemein vor.«
    »Du hast recht«, sagte ihre Mutter. »Es erscheint gemein. Besonders wenn es um jemanden geht, den man liebt.«
    Sie weinten. Und ein wenig lachten sie auch darüber, dass sie weinten.
    »Meine Güte«, sagte ihre Mutter. »Ich kann kaum die Straße vor uns erkennen.«
    »Was ist mit den !!!s passiert?«, sagte Mary.
    »Bitte?«
    »Die !!!s«, sagte Mary.
    »Oh«, sagte ihre Mutter. »Die scheinen jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus gehe, aus mir rauszufallen.«
    Als sie zu Hause ankamen, waren Marys Brüder aus der Schule zurück.
    »Hi, Jungs!«
    »Sie sind wieder da«, sagte Mary.
    »Die Jungen?!«
    »Nein, die !!!s.«
    »Oh, fein!«
    Die Jungs waren zu Hause, aber Mary kümmerte das nicht. Ihre Brüder waren älter als sie. Mit ihren 16 und 14 waren sie langweilig und merkwürdig. Früher waren sie einfach Dominic und Kevin gewesen, aber neuerdings zogen sie es vor, sich »Dommo« und »Killer« nennen zu lassen. Ihre Stimmen waren so tief, dass davon in der Küche die Tassen vibrierten, und fast überall im Haus stank es dermaßen nach einem Deodorant namens Lynx, dass es Mary Tränen in die Augen trieb, wann immer sie eine Wolke davon durchquerte. Sie lachten viel und erklärten nie, warum.
    Eine Stunde später saß Mary mit Dommo und Killer und ihrer Mutter und ihrem Vater, der Paddy hieß, beim Abendessen.
    Die Jungs lachten und rempelten einander an.
    »Was gibt’s zu lachen?«, sagte Paddy.
    »Nichts«, sagte Dommo.
    »Gibt es Eiskrem?«, sagte Killer.
    »Nicht unter der Woche!«, sagte Scarlett. »Was ist denn so witzig?«
    »Nichts.«
    »Lachen über gar nichts«, sagte Paddy. »Euch möchte ich mal erleben, wenn ihr wirklich über etwas lacht.«
    Diesmal lachten sie nicht.
    »Ich gebe es auf«, sagte Paddy.
    Sie lachten.
    »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Paddy Scarlett.
    »Gut«, sagte sie. »Nicht so gut. Wie üblich. Mein Gott, es fühlt sich schon grausam an, auch nur darüber zu sprechen.«
    Die Jungen lachten nicht. Sie liebten ihre Großmutter. Solange sie zurückdenken konnten, waren sie von ihr immer ihr durchgedrehtes Duo genannt worden. Sie hatte sich ausnahmslos alles angehört, was sie ihr erzählten, jedes Meckern, jede Beschwerde, und immer dieselbe Antwort gegeben: »Da habt ihr verdammt recht.« Und seit Dommo fünf und Killer drei war, hatte sie die beiden immer gleich begrüßt: »Und, schon eine Freundin, Jungs?« Sie waren ein einziges Mal bei ihr im Krankenhaus
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