Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
Vom Netzwerk:
Einzige aus ihrer Klasse noch einen letzten Milchzahn. Es war einer der hinteren Backenzähne und er war lose, also stupste sie ihn locker mit der Zunge an. Der Zahnarzt hatte ihr aufgetragen, das so zu machen, jeden Morgen und jeden Abend.
    »Komm raus oder ich bring dich um«, sagte sie zu ihrem Mund im Spiegel.
    Den Zahn zu bedrohen, war ihre eigene Idee gewesen, nicht die des Zahnarztes. Sie gab auf und ging zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie schaute zu ihnen rein, wie sie im Bett saßen und lasen.
    »Habt ihr euch die Zähne geputzt?«, fragte sie.
    »Ja!«
    »Klar.«
    Es war eine alte Gewohnheit, die sie jeden Abend wiederholten – jeden Abend. Mary stellte diese dumme Erwachsenenfrage und ihre Eltern gaben die Kinderantwort. Das ging seit Jahren so, seit Mary ihrem Vater eines Abends eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte und sie sich, weil es ihnen so bescheuert vorgekommen war, darüber so kaputtgelacht hatten, dass sie es am nächsten Abend wiederholt hatten, und am darauf folgenden erneut. Bis ihre Eltern, selbst wenn sie nicht zu Bett gingen, spaßeshalber so taten als ob.
    »Beide?«
    »Ja!«
    »Du kannst meinen Atem riechen, wenn du willst.«
    »Nein, danke«, sagte Mary. »Gute Nacht.«
    Sie küsste beide auf die Stirn.
    »Ein paar Minuten noch, dann Licht aus, okay?«
    »Oooh!«
    »Okay!«
    Als sie zur Tür ging und dann raus in den Korridor, wurde ihr plötzlich etwas bewusst: Was sie eben getan hatte, würde sie nicht mehr lange tun. Sie wusste einfach, dass sie es eines Tages nicht mehr tun würde. Und das machte sie traurig.
    Sie ging zu Bett und fühlte sich allein. Die Versuchung war groß, zu ihren Eltern zurückzulaufen, aber sie blieb, wo sie war. Sie las ein wenig in ihrem Buch, Biss zum Morgengrauen. Aber sie war müde und nicht einmal die Geschichte – es war das beste Buch, das sie je gelesen hatte, und den Film hatte sie sich schon siebenmal angesehen – vermochte sie wach zu halten. Sie knipste die Nachttischlampe aus, machte es sich bequem und war fast sofort eingeschlafen.
    Mary schloss nie ihre Vorhänge. Sie mochte das verschiedenartige Licht, das nachts durch das Fenster fiel, vor allem die Schatten, die von sich bewegenden Blättern erzeugt wurden, und die Scheinwerferstrahlen der Autos, die über ihre Zimmerdecke huschten. Oft schlief sie ein, während sie Autos zählte. Deshalb ließ sie die Vorhänge offen. Und an diesem Abend war das wirklich interessant, denn die Frau, die Mary am Mittag getroffen hatte, saß draußen auf ihrem Fensterbrett.

»Wie heißen Sie?«, fragte Mary.
    »Tansey«, sagte die Frau.
    Es war der Tag nach ihrem ersten Zusammentreffen, und unvermittelt war die Frau wieder da, ging neben Mary her, im selben Kleid und in denselben großen Stiefeln. An den Stiefeln pappte Matsch, aber er sah sauber und glänzend aus, als wären die Stiefel nur angemalt worden, um matschig zu wirken. Da war sie, und erst jetzt fiel Mary wieder ein, dass sie sich bereits gestern kennengelernt hatten. Sie hatte es völlig vergessen.
    »Tansey?«, sagte Mary. »Ist das so eine Art Abkürzung für irgendwas?«
    »Ist es«, sagte die Frau.
    »Also«, sagte Mary. »Wofür steht es denn?«
    »Anastasia.«
    Mary blieb stehen und musterte die Frau – Anastasia. Der Name wirkte genauso altmodisch wie alles Übrige an ihr. Sie lächelte Mary an. Es war kalt, aber sie trug keine Jacke, nicht mal einen Wollpulli.
    »Den Namen hab ich schon mal gehört«, sagte Mary.
    »Natürlich, es ist ja auch ein ganz normaler Name«, sagte die Frau.
    »Wahrscheinlich«, sagte Mary. »Sind Sie in Avas Haus eingezogen?«
    »Bin ich nicht«, sagte die Frau. »Und wer ist diese Ava, wenn sie zu Hause ist?«
    »Meine Freundin«, sagte Mary. »Und sie ist nicht zu Hause. Sie ist weggezogen.«
    »Meine Güte.«
    »Das ist einfach doof«, sagte Mary.
    »Da hast du verdammt recht.«
    »In welchem Haus wohnen Sie?«
    »In keinem«, sagte Tansey.
    »Was?«
    »Ich lebe in gar keinem Haus.«
    Plötzlich wurde Mary wieder nervös. War die Frau verrückt? Womöglich gefährlich? Aber ein kurzer Blick ins Gesicht der Frau beruhigte sie wieder. Von Wahnsinn oder Gefahr keine Spur. Die Frau lächelte, und neben einem Auge erschien ein winziges Fältchen, das wie ein zusätzliches Lächeln wirkte.
    »Ich verstehe«, sagte Mary. »Sie wohnen in einem der Appartements.«
    Sie zeigte auf den grauroten Block am Ende der Straße.
    »Nein, tu ich nicht«, sagte Frau. »Was ist ein Appartement?«
    Sie stützte sich mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher