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Der wahre Hannibal Lecter

Titel: Der wahre Hannibal Lecter
Autoren: Jaques Buval
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Vorwort

    Geschichten über Mörder lassen leicht vergessen, dass seit Kain und Abel das Töten von Menschen als allzu menschlich gilt. Aber keineswegs werden Mord und Totschlag immer mit einhelligem Abscheu betrachtet. Heute verabscheuen wir es als Mord, wenn aus niedrigen Beweggründen unter Ausnutzung der Wehrlosigkeit des Opfers getötet wurde. Wenn der Täter aber im Auftrag einer Regierung handelte und unter Befehl stand, fragt man nicht nach dem Motiv. Auch das Ziel einer Luft-Boden-Rakete bezeichnet man nicht als wehrlos. Krieg ist Krieg und eben etwas ganz anderes. Auch so unvergleichbare Täter wie die Mordgesellen der Heiligen Inquisition, der Kolonialherren, der KZ-Kommandos, der afrikanischen Tutsi oder Hutu oder anderer ethnischer Säuberungskommandos – sie alle töteten und töten keineswegs »neutral« und ohne Beweggrund. Nur ganz selten allerdings und meist erst Jahrzehnte später interessiert sich ein Gericht dafür, ob diese Beweggründe vielleicht »niedrig« waren oder nicht. Die »Lizenz zum Töten« schützt vor dem Mordvorwurf.
    Der allerdings wird in unseren Tagen auch von hohen Würdenträgern erhoben, wenn es um Sterbehilfe oder Abtreibung geht. Aber sie schweigen zur Todesstrafe, die auch heute noch in hochzivilisierten Gesellschaften vollzogen wird, und sie schweigen zum Krieg. Das Problem der Moralexperten liegt eben darin, dass sie sich nicht mit Regierungen und Staaten anlegen möchten, die ohne die Option zu töten nicht überlebensfähig zu sein glauben. So hat sich eine Mehrheit darauf geeinigt, das alttestamentarische »Du sollst nicht töten!«
    unter von ihnen selber scharfsinnig bestimmten Umständen für ungültig zu erklären. Sie beanspruchen damit ein Privileg, das auch jeder Mörder für sich reklamieren könnte. Und jeder gefasste Täter reklamiert es tatsächlich vor Gericht, vor Gutachtern und Journalisten auf seine Weise.

    Wer aus europäischen Gerichtsakten oder Zeitungsberichten ein Tötungsdelikt nachzuzeichnen versucht, der gerät sehr bald in einen Strudel von Mitleid und Furcht erweckenden Einzelheiten. Denn Gutachter, Verteidiger und nicht zuletzt der Gerichtsreporter müssen alles daran setzen, die Tat zu »erklären«.
    Jaques Buval hat mit einfühlender Phantasie ein Bild der Tat und des Täters komponiert, wie es die Zeitzeugen wohl vor sich gesehen haben. Aus Armut, Gewalterfahrung, sexuellem Missbrauch, Drogen und Ekel wächst da eine Gestalt heran, deren Taten bizarr und abstoßend sind. Die Logik dieses Bildes ist indessen die Logik der Prozessbeteiligten, die nach Schuld und Erklärung suchten. Es ist nicht die Logik des Tötens.
    Diese Logik nämlich beruht wie jedes Sozialverhalten auf dem Prinzip des Lernens. Deswegen richtet sich die erste Frage des Kriminologen, der nicht beurteilen, sondern der Wahrheit nahe kommen will, auf den eigentlichen Tötungsvorgang. Man braucht Erfahrung, Kenntnisse und körperliches Geschick, um einen Menschen töten zu können. Wo und durch wen lernte Maudsley, ein Lebewesen durch Fußtritte wehrlos zu machen und dann seinen Kopf auf dem Fußboden zu zerschmettern?
    Wann und wie lernte er zu würgen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der oft kolportierten Geschichte aus den Kolonien, nach der vornehme Herren aus dem geöffneten Schädel lebender Affen das Gehirn löffeln, und dem Versuch, von dem Gehirn seines letzten Opfers zu essen?
    Mit bloßer Kraft oder heftiger Emotion lässt sich keineswegs ein Handlungsablauf erklären, der wie hier sehr viel Wissen und einige Übung voraussetzt.
    Die zweite Frage gilt dann dem Auslöser der Tat, die sich mit dem »Willen« zu töten in keinem Fall erklären lässt. Wie kam der Täter dazu, auf diese Weise zu »strafen«, zu »rächen«, sich zu »schützen« oder die »Bilanz« wiederherstellen zu wollen? Worin bestand der subjektive Taterfolg? Auch diese Lerngeschichte, so zeigt die wissenschaftliche Betrachtung, hat ihre Ursprünge und Entwicklungsphasen, ihre Lehrer und Verstärker.
    Zu all dem können Täter aber meist nur Recherchehinweise liefern, da ihr Gedächtnis durch die intensiven Eindrücke aus Vernehmungen, Verteidigergesprächen, durch Rechtfertigungs-not und Fremdkommentare kaum mehr Verwertbares beitragen kann.
    Nach längerer Haftzeit entwickeln verurteilte Täter meist auch eine Art »Bekenntnissprache«, deren Vokabular sie aus dem Gespräch mit Rechtsbeistand, Psychologen, Sozial-arbeitern und Geistlichen entnehmen. Damit verblüffen sie
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