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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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nett.«
    »Welche neue Nachbarin?!«, sagte Scarlett. »Sind die etwa schon in Avas Haus eingezogen?«
    Sie trat beiseite, als Mary die Eier zu schlagen begann. Marys Hand verschwamm, und Dotterspritzer klatschten gegen die Wand wie selbstmörderische gelbe Fliegen.
    »Nein«, sagte Mary. »Avas Haus sieht leer aus. Die wohnt in irgendeinem anderen, schätze ich. Sie ist alt.«
    »Alt?«
    »Nicht wirklich alt, meine ich«, sagte Mary.
    Sie war mit den Eiern fertig und der größte Teil von ihnen befand sich noch in der Schüssel.
    »Sie hat nur alt geredet«, sagte sie. »Aber eigentlich würde ich sagen, sie war in deinem Alter. Vielleicht sogar jünger.«
    »Sie hat alt geredet?!«
    »Mhm«, sagte Mary. »Irgendwie altmodisch. So wie Oma. Und sie war alt angezogen. Ein Kleid und so.«
    »Ich glaube nicht, dass ich sie schon gesehen habe«, sagte Scarlett.
    Mary hatte den geschlagenen Eiern Milch und Salz hinzugefügt. Sie tunkte die erste Scheibe Weißbrot in die Mischung.
    »Wie heißt sie denn?«, sagte Scarlett.
    »Keine Ahnung«, sagte Mary.
    Sie stellte die Pfanne auf den Ofen und drehte das Gas auf. Sie mochte das Fupp! , mit dem das Gas sich an dem Funken entzündete, und sie mochte die bläuliche Färbung der Flamme. Viel interessanter als rot. Sie gab Butter in die Pfanne und sah dabei zu, wie sie schmolz und zu zischen begann. Dann legte sie die erste mit Ei und Milch getränkte Brotscheibe hinein.
    »Nächstes Mal frage ich sie«, sagte sie. »Sie ist nett. Genau wie dieser Arme Ritter.«
    Die erste Scheibe war für Scarlett.
    »Danke!«, sagte sie. »Das ist hervorragend!«
    »Erst essen«, sagte Mary. »Dann loben.«
    »Bin ja schon dabei! Es ist sogar noch besser!«
    Jede von ihnen aß drei Scheiben.
    »Bist du so weit?!«, sagte Scarlett, während sie Teller und Besteck ins Waschbecken stellte. Sie versuchte, noch begeisterter als üblich zu klingen. Aber in Wirklichkeit hasste Marys Mutter diesen Teil des Tages – diese Besuche, die seit fünf Wochen täglich ein Loch in ihr gewohntes Leben rissen – genau so, wie Mary sie hasste.
    »Alles klar«, sagte Mary.

Mary mochte das Krankenhaus nicht. Sie hasste den dort herrschenden Geruch und den Lärm und die Menschen, die sich weinend auf den Fluren aneinanderklammerten, und die Kranken, die in ihren Morgenmänteln vor dem Eingang herumstanden, wo sie rauchten und husteten. Der Ort jagte ihr Angst ein. Selbst der Name, Heiligherz-Hospital, flößte ihr ein wenig Angst ein. Das Heilige Herz nannten es die Leute. Sie liegt im Heiligen Herz. Mary stellte sich ein gewaltiges blutiges Herz mit einer schmatzenden Tür vor, durch die man sich quetschen musste, und von den Decken tropfendes Blut. Sie wusste, wie blödsinnig das war. Eigentlich war das Krankenhaus ein graues Gebäude, von dem nirgends Blut tropfte, auch wenn in einem der Flure Wasser an einer Wand herablief. Aber überall, an jeder Wand und jeder Tür, warnten Schilder vor Schweinegrippe, vor Influenza, vor dem Noro-Virus und vor Husten, wiesen auf Desinfektionsmittel hin und auf Händewaschen und darauf, die Krankenhausrechnungen zu begleichen. All das hasste sie, aber nicht etwa, weil sie befürchtete, sich mit der Schweinegrippe zu infizieren oder unmittelbar zu Winteranfang Brechattacken zu erleiden. Nein, es war die Atmosphäre, die hier herrschte – all diese Krankheiten und Warnungen. Mary liebte ihre Großmutter, aber sie hasste es, sie besuchen zu müssen – und auch deshalb fühlte sie sich schlecht.
    Ihre Großmutter war sehr krank, aber auch sehr fröhlich. Als sie Mary erblickte, wurde ihr Lächeln noch größer und breiter.
    »Komm zu mir rauf«, sagte sie.
    »Okay«, sagte Mary.
    Sie zog ihre Stiefel aus, kletterte auf das Bett und legte sich neben ihre Großmutter.
    »Aber Großmutter«, sagte Mary, »warum hast du so große Zähne?«
    Das war ein Mary-Oma-Witz, der aus der Zeit herrührte, als Mary gerade mal fünf Jahre alt gewesen war und ihre Großmutter ihr Rotkäppchen vorgelesen hatte. (Auch wenn die Zähne ihrer Großmutter wirklich sehr groß waren.)
    Ihre Großmutter lächelte erneut.
    »Damit ich dich besser fressen kann, mein Schätzchen«, sagte sie.
    »Fang mit meinen Füßen an«, sagte Mary.
    »Die sind zu weit entfernt«, sagte ihre Großmutter. »Du wächst zu schnell.«
    »Ich weiß«, sagte Mary. »Im Wachsen bin ich wirklich gut.«
    »Sie wird mal so groß werden wie du, Mama!«, sagte Scarlett.
    »Wie wir alle«, sagte Marys Großmutter – Scarletts
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