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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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Türenknallen einfacher war.
    »Wenn das mal nicht nass ist.«
    Irgendwer hatte Mary gerade angesprochen. Aber sie konnte niemanden sehen. Sie stand allein auf der Straße, direkt vor Avas Haustür.
    Dann erblickte sie die Frau.
    Sie muss hinter einem der Bäume gestanden haben, dachte Mary.
    Die Frau war alt. Aber eigentlich war sie das gar nicht. Mary wusste, woran es lag, dass die Frau alt wirkte. Weil sie altmodisch aussah. Sie trug ein Kleid, das wie aus einem alten Spielfilm wirkte, einem dieser Filme, bei denen ihre Mutter immer heulte. Sie sah aus wie eine Frau, die Kühe melkte und Heu mit der Mistgabel wendete. Sie trug sogar Stiefel mit dicken Schnürsenkeln.
    Über ihnen musste ein Vogel aufgeflogen sein, denn die Blätter raschelten und es regnete jede Menge Wasser auf ihre Köpfe. Mary lachte – diesmal spürte sie die Regentropfen –, aber die Frau schien es gar nicht wahrzunehmen. Sie hatte nichts abgekriegt. Bloß …
    »Wenn das nicht nass ist, weiß ich’s nicht«, sagte sie. »Hast jede Menge Hausaufgaben auf, oder nicht?«
    »Wie immer«, sagte Mary.
    »In keinem Zuhause geht es zu wie immer.«
    Mary lachte erneut. Die Frau klang wie ihre Großmutter. Aber das machte sie sofort wieder traurig und gleichzeitig wütend. Gleich würde sie anfangen zu weinen – dachte sie jedenfalls.
    »Was hast du?«, sagte die Frau.
    »Meiner Großmutter geht’s nicht so gut«, sagte Mary.
    »Sicher, das weiß ich«, sagte die Frau.
    »Warum fragen Sie dann?«, sagte Mary.
    »Meine Güte, du bist wirklich kess.«
    »Was heißt das?«
    »Dass du eine vorwitzige junge Dame bist«, sagte die Frau.
    »Das behauptet jeder von mir«, sagte Mary. »Dass ich vorwitzig bin. Und frech. Bin ich aber nicht. Ich bin nur ehrlich.«
    »Braves Mädchen.«
    Mary betrachtete die Frau genauer. Sie war überhaupt nicht alt. Sie sah jünger aus als Marys Mutter, auch wenn es grundsätzlich schwierig war, das Alter von Erwachsenen einzuschätzen. Mary war sich sicher, diese Frau nie zuvor gesehen zu haben.
    Sprich mit keinen Fremden, schoss es ihr durch den Kopf. Das hatte sie schon früh gelernt.
    »Aber das ist doch dämlich«, hatte sie vor ein paar Jahren gesagt.
    »Warum ist das dämlich?«, hatte ihre Mutter gesagt.
    »Wusstest du, wer Dad war, als du ihn kennenlerntest?«
    »Natürlich nicht.«
    »Also war er ein Fremder.«
    »Aber …«
    »Und du hast mit ihm gesprochen«, sagte Mary. »Wenn niemand mit fremden Leuten sprechen würde, könnte keiner jemanden kennenlernen, und die menschliche Rasse würde, na ja, irgendwie aussterben.«
    »Dein Dad war aber kein Fremder.«
    »Doch, war er. Muss er ja gewesen sein.«
    »Er kam mir nicht fremd vor«, sagte ihre Mutter. »Er war nett.«
    »Nett?«, sagte Mary. »Die netten Kerle sind doch genau die, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.«
    Ihre Mutter lachte.
    »Was gibt’s da zu lachen?«, sagte Mary.
    »Wer hat dir denn das erzählt?«
    »Oma.«
    »Hätte ich mir denken können«, sagte ihre Mutter. »Na, auf deine Großmutter solltest du nicht hören.«
    »Auf meine Großmutter soll ich nicht hören und Fremde nicht ansprechen?«, sagte Mary. »Dann bleibt niemand mehr, mit dem ich reden kann.«
    »Du weißt doch, was ich meine«, sagte ihre Mutter.
    »Mit Fremden?«
    »Genau.«
    »Keine Sorge«, sagte Mary. »Ich lasse mich auf kein Gespräch ein.«
    Aber sie tat es doch – gerade jetzt.
    »Woher kennen Sie meine Großmutter?«, fragte sie die Frau.
    »Ach, einfach so, weißt du«, sagte die Frau.
    Sie trat einen Schritt zurück und schien zu schimmern – auf gewisse Weise –, als hätte sie sich hinter eine Plastikplane zurückgezogen.
    »So ist das Leben«, sagte sie – und nahm wieder feste Gestalt an und lächelte.
    Aber Mary war ein wenig erschreckt und ihr war kalt.
    »Ich muss gehen«, sagte sie.
    »Natürlich. Bitte sehr.«
    Sie trat nicht beiseite. Sie schien sich überhaupt nicht zu bewegen. Musste es aber doch getan haben, denn auf einmal stand sie nicht mehr vor Mary.
    Mary ging rasch auf die Gartentür zu. Hinter sich hörte sie die Frau.
    »Wenn du mir einen kleinen Gefallen tun könntest, Mary?«
    Mary wandte sich um.
    »Sag deiner Großmutter, dass alles ganz großartig wird«, sagte die Frau – sie lächelte immer noch.
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«, sagte Mary.
    »Ungefähr die Hälfte aller irischen Mädchen dürfte Mary heißen«, sagte die Frau.
    »Nein, tun sie nicht«, sagte Mary. »Hier in der Gegend bin ich die Einzige.«
    »Nun, zu
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