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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Autoren: R Doyle
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immer dort, wohin er jeweils versetzt wurde, irgendeine Baracke bezogen. Bis sie dann, mit siebzehn, die Anstellung in dem Tuchladen in Gorey bekommen hatte, wo sie, zusammen mit einem anderen Mädchen, Eileen, ein Zimmer direkt über dem Laden bewohnt hatte. Dann hatte sie Jim kennengelernt, als sie auf dem Eis vor der Kirche ausgeglitten war. Er war zu spät gekommen, um sie noch aufzufangen, aber gerade rechtzeitig, um ihr aufzuhelfen.
    »Warst du eigentlich mit Absicht so langsam?«, fragte sie ihn später, als sie schon zusammen waren und jeder wusste, dass sie heiraten würden.
    »War ich«, sagte er. »Du hattest so eine hübsche Art zu fallen. Es war bühnenreif.«
    »Du hast es ganz richtig gemacht«, sagte sie. »Wäre ich nicht gefallen, hättest du nicht gefragt, ob es mir gut geht, und ich hätte nicht Ja gesagt, und so hat es ja schließlich angefangen.«
    »Das war die blauen Flecken wert, oder?«
    »Und ob. Ich hab nicht mal nachgesehen, ob ich überhaupt blaue Flecken hatte.«
    So war das zwischen ihnen. Ihr Umgang miteinander war von Anfang an ungezwungen, sie waren beste Freunde, noch bevor sie überhaupt ihre Namen kannten. Tansey hätte dem Eis gern gedankt, wenn es nicht längst geschmolzen wäre.
    Im Türrahmen blieb sie stehen. Das tat sie immer, bevor sie das Haus betrat. Wenn sie nicht einen kleinen Moment abwartete, fühlte es sich an, als betrete sie tiefste Schwärze. Sie zog die schlammigen Stiefel aus, während sie darauf wartete, dass ihre Augen sich der Dunkelheit anpassten. Ein kleines Frösteln überfiel sie, ganz plötzlich, als strichen ihr kalte nasse Finger übers Gesicht. Also betrat sie die Küche. Speck- und Kohlgeruch erfüllte die Luft, und das Geschrei eines Kindes, dem soeben ein Ei heruntergefallen war.
    Sie hob Emer hoch.
    »Na, was ist denn los mit dir?«
    »Das Hei!«
    »Ist es dir runtergefallen?«
    »Isses!«
    »Aber sicher.«
    »Es ist tot.«
    »Es ist nicht tot, Schätzchen. Nur zerplatzt.«
    »Ich hab’s getotmacht.«
    »Nein.«
    »Hab ich wohl!«
    »Nein, nein«, sagte Tansey. »In einem Ei, das nicht unter der Henne liegt, da ist kein Leben drin. Und überhaupt, schau mal. Wir haben einen ganzen Korb voll davon. Magst du ein anderes haben, ja?«
    »Nein«, sagte Emer.
    »Dann nicht.«
    Emer war schon wieder auf dem Damm. Tansey spürte es in dem kleinen Körper. Der Aufruhr war verpufft und der Schreck wurde bereits Erinnerung. Tansey warf einen Blick hinüber zu Jims Mutter und sah, dass ihre Hilfe noch nicht gebraucht wurde. Tansey konnte noch eine Weile mit Emer auf dem Schoß beim Feuer sitzen. Baby James schlief warm zugedeckt in seinem Gitterbett.
    Emer auf dem Arm, ging Tansey zum großen Sessel. Dieser Sessel hatte Jims Vater gehört, den sie nie kennengelernt hatte. Er war gestorben, ein Jahr bevor sie auf dem Eis stürzte und sich in Jim verliebte. Trotzdem meinte sie, ihn zu kennen, denn etwas von ihm – Tabakduft, die Gerüche, die er aus allen Ecken des Hofs mit hereingebracht hatte – schien noch immer in dem Sessel zu hängen. Er musste, so hieß es von allen Seiten übereinstimmend, ein schwieriger Mann gewesen sein, und er hatte Jim nahegelegt, dieser brauche sich nach einer Frau gar nicht erst umzusehen, solange er selber und Jims Mutter noch am Leben waren. Zwei Frauen in derselben Küche, das geht nicht gut. Dennoch, schwierig oder nicht, sie konnte sich vorstellen, dass sie ihn gemocht hätte. Der Sessel, wann immer sie beschloss, darauf Platz zu nehmen, schien sie regelmäßig willkommen zu heißen.
    »Es war nur ein Hei«, sagte Emer.
    »Das war es«, sagte ihre Mutter. »Ein feines Ei, das muss man zwar sagen, aber eben doch nur ein Ei.«
    Sie bewegte ihre Finger über die Knöpfe an Emers Mantel und half ihr beim Ausziehen. Sie spürte, wie Emer ein wenig zappelte, um sich von dem Mantel zu befreien. Emers gesammelte Sorgen und ihre Anspannung fielen gemeinsam mit dem Mantel von ihr ab. Tansey ließ ihn zu Boden fallen, in sicherer Entfernung von Glut und Asche und neben dem schlafenden Parnell. Sie umschlang Emer erneut mit den Armen.
    »Wie geht’s dir, mein Schätzchen?«, sagte sie.
    »Mir geht’s gut«, sagte Emer. »Mach mal die Augen zu.«
    Das war Emers Spiel. Tansey schloss die Augen und wartete. Sie spürte Emer auf ihrem Schoß das Gewicht verlagern. Sie spürte, wie Emers Lippen ihr Kinn berührten.
    Sie sagte ihren Satz auf – es musste immer genau derselbe sein, das war die Regel.
    »Ah, na bitte, diesen Kuss kenne
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