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0848 - Der alte Mann verfluchte mich

0848 - Der alte Mann verfluchte mich

Titel: 0848 - Der alte Mann verfluchte mich
Autoren: Jason Dark
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»Mag der Himmel Euch vergeben, was Ihr mir habt angetan…«
    Gewaltig war die Musik, gewaltig waren die Stimmen der Sänger, die durch das große, leere Haus hallten, als wollten sie die Wände zum Einsturz bringen.
    »Martha« - dritter Akt, das Finale.
    Eine herrliche Musik. Voller Gefühl, voller Schmerz und auch Verzweiflung.
    »Mag der Himmel Euch vergeben…«
    Erica hörte es zum wiederholten Mal. Einsam stand sie auf der breiten, geschwungenen Treppe, das blasse Gesicht verklärt, die Augen verdreht, als wollte sie in ihre Seele schauen, die Wangen von Tränenspuren verklebt. Vergeben, dachte sie. Nein, mir wird niemand vergeben, nicht der Himmel und auch nicht die Hölle.
    Sie lauschte der Musik. Eine Hand hatte sie auf dem Geländer liegen. Das weiß-beige Kleid reichte mit seinem Saum bis tief zu ihren Knöcheln hinab. Die langen schwarzen Haare hatte sie hochgekämmt und auf dem Kopf zusammengesteckt. Nicht eine Regung zeigte das Gesicht, in dem der Mund so rot wie eine Blüte wirkte, obwohl die Haut ansonsten eine ungesunde Bleiche zeigte.
    Dunkle Brauen wölbten sich wie Bögen über ebenfalls dunklen Augen. Schmucklos präsentierte sich der schlanke Hals, und die Fingernägel schimmerten wie in Blut getaucht.
    Noch einmal holten die Sänger aus, noch einmal gaben sie alles, und die Frau auf der Treppe zuckte zusammen, als litte sie unter den Schlägen einer unsichtbaren Peitsche.
    Wieder rannen die Tränen perlengleich aus ihren Augen. Sie selbst wirkte wie eine Kunstfigur von der Bühne, und sie sank zusammen, als der letzte Ton verhallte.
    Wie der sterbende Schwan, wie eine Tänzerin, die dem Zuschauer ihren Tod demonstrieren wollte.
    Die stolze schöne Frau hockte auf der Treppe wie ein Häufchen Elend, das von aller Welt vergessen worden war. Den Kopf nach vorn gedrückt, das Gesicht in den angewinkelten Armen versteckt, weil niemand die Tränen sehen sollte.
    Stille lag über der Halle. Eine bedrückende Stille, die besonders schwer wirkte, weil sie direkt nach dieser grandiosen Musik eingetreten war. Eine Stille wie altes Blei, gefüllt mit dem Dunst des Sterbens.
    Wieviel Zeit verstrichen war, wußte die Frau nicht, als sie den Kopf hob. Sie tat es sehr langsam und hockte dabei noch immer auf der Treppenstufe. Der Blick ihrer Augen war ins Leere gerichtet, er streifte hinein in die. Halle, in der nur mehr wenige Möbelstücke ihren Platz gefunden hatten.
    Eine Kommode mit dem Plattenspieler darauf. Ein Stuhl und der Kronleuchter an der Decke, dessen Licht schon vielen großartigen Festen den letzten Glanz gegeben hatte.
    Auch jetzt verteilte er sein Licht, aber es schien nicht mehr so hell, es war alt, verbraucht, verstaubt…
    Die Frau hatte sich hingestellt und ihren Kopf in den Nacken gedrückt. Es sah aus, als wollte sie Kraft finden, um die nächsten Tage ihres Lebens überstehen zu können. Dieses aber trog, sie hatte etwas anderes vor, etwas ganz anderes.
    Sie schritt die Stufen hinab. Nicht wie eine Königin, sondern zitternd und ängstlich. Eine Person, die froh war, sich am Handlauf des Geländers abstützen zu können.
    Sie ging mit leichten Schritten. Dennoch wirkten ihre Bewegungen schwer, als hätte sie unter einer großen Last zu leiden. Sie war eine Frau, die lebte, aber nicht mehr fühlte. Nur die Musik, die Oper »Martha« hatte ihr noch Kraft gegeben.
    Sie ließ die Treppe hinter sich und trat zwei zögernde Schritte in die Halle hinein. Dabei bewegte sie ihre Nasenflügel, als wollte sie einen bestimmten Geruch herbeisehnen.
    Es roch alt.
    Moder, Staub, alte Stoffe, das Holz des Bodens, all das war noch vorhanden. Es hielt keinen Vergleich mehr zu den früheren Zeiten stand, als hier noch gelebt, geliebt und gefeiert wurde. Jetzt moderte das Gebäude innen und außen vor sich hin, als wollte es sehnsüchtig auf seinen Tod warten. Und der Tod war wichtig. Erica wußte es. Sie liebte ihn nicht gerade, sie hatte sich aber mit ihm beschäftigt, und er kam ihr jetzt vor wie ein großer Freund, der darauf wartete, sie in die Arme schließen zu können. Sie würde ihn umfangen wie Musik, und sie würde fröhlich mit in sein unbeschreibliches Reich eingehen.
    Es war so still, als sie auf eines der zahlreichen Fenster zuging.
    Keines war zu sehen, denn lange und auch breite Vorhänge verdeckten die Scheiben. Erica blieb genau vor dem Fenster stehen, durch das ihr Blick später weit hinaus auf das Meer fallen würde.
    Das Meer, das für sie ein endloses Feld war und nie abgeerntet
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