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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond
Autoren: N Vosseler
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Prolog
    Oxford, April 1842
     Die Kirchturmglocken von St. Giles am Ende der Straße, nur wenige Häuser entfernt, zählten die Stunden in die Frühjahrsnacht hinaus. Drei, vier, fünf , wiederholte Maya im Stillen. Sechs, sieben – oder war das schon der achte Schlag gewesen? In ihrer Schlaftrunkenheit hatte sich das bald neunjährige Mädchen verzählt, und als der letzte Ton verklungen war, wusste sie nicht, ob es erst elf oder schon Mitternacht war. Seufzend drehte sie sich im Bett herum und angelte nach der Decke, die sie im Traum von sich gestrampelt hatte. Im Zimmer war es kühl. Obwohl die Sonne tagsüber schon warm schien, waren die Nächte noch wenig frühlingshaft. Doch bei den Greenwoods, die in jeder Generation mindestens einen Arzt hervorgebracht hatten, war es üblich, dass sommers wie winters in den Nächten die Fenster zumindest einen Spalt geöffnet blieben, der frischen Luft und der Abhärtung wegen. So war es immer gewesen, soweit Maya zurückdenken konnte.
    Angestrengt lauschte sie den Geräuschen im Zimmer. Die hörbar tiefen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, dass ihre jüngere Schwester wie gewohnt fest schlief. Dass Angelinas Schlafgewohnheiten sich dem von ihrer Mutter und der Nanny gewünschten Rhythmus fügten, Mayas hingegen diesem irgendwie zuwiderliefen, war nicht das Einzige, was die beiden Mädchen unterschied. Wer Martha Greenwood zum ersten Mal mit ihren Töchtern sah, kam nicht umhin, teils verunsichert, teils verwirrt von einer zur anderen zu blicken. Angelina und ihre Mutter waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten: beide zart, blass und blond, mit den gleichen großen dunkelblauen Augen, wie Puppen aus Biskuitporzellan. Maya hingegen wirkte ziemlich robust neben der zierlichen Gestalt ihrer Schwester. Selbst im Winter hatte ihre Haut einen Hauch von Farbe. Und auch wenn sie stolz darauf war, im Gegensatz zu Angelina von Natur aus Locken zu haben, ließ sich ihr Haar, dunkel wie starker Kaffee, nur selten zu einer jener kunstvollen Frisuren bändigen, die für kleine und große Mädchen so beliebt waren. Das Ungewöhnlichste an Maya aber waren ihre Augen: in der lichtbraunen Iris schimmerte es golden, wie dunkler Bernstein oder Honig, in den Sonnenstrahlen fielen. Wer die Familie näher kannte und wusste, dass Gerald Greenwood zum zweiten Mal verheiratet war, glaubte zuerst oft, Maya stammte wie ihr älterer Bruder Jonathan aus Geralds erster Ehe.
    Vor gut drei Jahren waren die Greenwoods aus dem schmalen Haus in der Turl Street hierher in die St. Giles Street übergesiedelt. Zwei der Zimmer im Erdgeschoss hatte Mayas Großvater bezogen, nachdem er mit fast siebzig Jahren seine Arztpraxis aufgegeben hatte. Eines Tages, als überall im Haus noch halb oder gar nicht ausgepackte Kisten herumstanden, war Maya mit einem Glas Milch und Keksen auf das Sofa ihres Großvaters gesetzt worden, damit sie den Handwerkern nicht zwischen den Beinen herumlief, die in manchen der Räume noch zu arbeiten hatten, während Angelina oben brav ihren Mittagsschlaf hielt. Maya machte es nichts aus, Zeit mit ihrem wortkargen Großvater zu verbringen. Sein Schweigen war ihr angenehm, verglichen mit Angelinas Geplapper und den immerwährenden Ermahnungen ihrer Mutter und der Nanny, sich gerade zu halten, kleinere Schritte zu machen und leiser zu sprechen.
    Sachte hatte sie mit den Beinen gebaumelt und sich im neu eingerichteten Zimmer mit den hohen Buntglasfenstern zur Straße hin umgesehen. Ihr Blick war an einem goldgerahmten Portrait hängen geblieben, das ihr nie zuvor aufgefallen war. Es musste einem der Räume im Haus ihres Großvaters entstammen, die die Kinder bei ihren sonntäglichen Besuchen nicht betreten durften. So war Maya auch bis zum Umzug, als die Möbelpacker das schwere Bett aus Eichenholz hochkant durch die Eingangstür geschoben hatten, davon ausgegangen, dass ihr Großvater gar keines besaß und auf der lederbezogenen Chaiselongue in seinem Untersuchungszimmer nächtigte, wo er ohnehin die meiste Zeit verbrachte. Doch dieses Gemälde schien ihm so wichtig gewesen zu sein, dass er es sofort aufgehängt hatte, noch ehe all seine geliebten Fachbücher ausgepackt und eingeräumt waren. Es zeigte eine Frau in einem altertümlich fließenden Gewand, das so gar nichts mit den voluminösen Röcken gemein hatte, die Maya an ihrer Mutter und auf der Straße zu Gesicht bekam. Das ebenholzschwarze Haar war nur locker aufgesteckt und wirkte auf Maya, verglichen mit den akkurat
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