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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond
Autoren: N Vosseler
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Maya. Und selbst die bleichen Bücherwürmer, die sich zu den Diskussionszirkeln bei Professor Greenwood einfanden, verloren schnell das Interesse, wenn Maya sich hitzig in die Gespräche einmischte und den jungen Männern wenig damenhaft ihr Wissen um die Ohren schlug. So hatte Martha es als ihre mütterliche Pflicht verstanden, den Brief entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten zu öffnen, als Hazel ihn zusammen mit der anderen Post überbrachte, und hatte ihre älteste Tochter schließlich zur Rede gestellt. Maya war mit ihren zwanzig Jahren schon fast ein spätes Mädchen und nicht mehr die beste Partie; umso mehr musste ihre Mutter dafür Sorge tragen, dass ihr Ruf unbefleckt blieb. Es würde keinen weiteren Kontakt zwischen ihrer Tochter und Richard Burton geben, so viel stand fest.
    Mit kummervoller Miene faltete Maya den Briefbogen wieder zusammen, presste ihn zwischen ihre Handflächen und ließ die Lippen wie zum Gebet auf der Kante ruhen. »Komm zurück, Richard«, flüsterte sie, ihre Stimme heiser vor Sehnsucht, »komm zurück und hol mich fort von hier!«
    Seine Briefe waren der kostbarste Schatz, den sie besaß. Briefe, die sie Wort für Wort auswendig kannte, so oft hatte sie jeden einzelnen davon gelesen. Waren sie ihr doch das Tor zu einer farbenprächtigen Welt, das sie jederzeit durchschreiten konnte, wenn ihre Tage gar zu grau, zu trostlos waren. Diese Briefe waren ihre einzige Verbindung zu Richard, und jeder von ihnen trug seine Stimme in sich, wie er ihr über Tausende von Meilen hinweg zuflüsterte:
    Wie wunderschön diese orientalischen Nächte sind … Über allem schwebt der süße Duft der hukkah-Pfeifen, und überall Räucherwerk, Opium und Hanf … Stoffe, so prächtig wie für eine Prinzessin aus einem Märchen, oder wie für Dich, meine kleine Maya … Und dann erlaubte mein Hindu-Lehrer mir offiziell, die janeo zu tragen, die heilige Kordel der Brahmanen … Das fortwährende Tam-tam und Quieken der einheimischen Musik, vermischt mit den dröhnenden, brüllenden Stimmen der Bewohner, das Bellen und Kläffen der zankenden Köter und die Schreie hungriger Möwen, die sich um Brocken toten Fischs streiten, verbinden sich zu einer Mischung, die als etwas absolut Fremdes auf das Trommelfell trifft … Und ich dachte an unsere Bootsfahrt, als ich »uns zwei beide« – wie Du immer sagtest – über den Cherwell ruderte, damals, als der Flieder in voller Blüte stand … Die Luft war weich und wohlriechend, zugleich ausreichend kühl, um angenehm zu sein. Ein dünner Nebel ruhte über dem Boden und zog sich bis halb auf die Hügel hinauf, ließ deren palmenbekleidete Gipfel frei, um das silbrige Licht des Morgengrauens einzufangen … In welch weiser Voraussicht haben Dir Deine Eltern Deinen Namen gegeben! »Maya«, die Göttin der Illusion, die den Geist der Menschen betört und bezaubert. So wie Du mir über Zeit und Raum nur mehr als eine Illusion erscheinst, obschon ich doch weiß, dass es Dich wahrhaftig gibt; so wie die Erinnerung an Dich mich betört und bezaubert – Maya, Majoschka …
    Sie schloss die Augen. Ihre Wangen brannten, vor Zorn und vor Kälte. Doch mit ein wenig Phantasie konnte sie sich vorstellen, dass es die Sonne war, die ihre Haut erglühen ließ. Eine Sonne, die die Luft erwärmte, den Schnee genau wie die Monate dahinschmelzen ließ, die seit jenem Sommertag vor zwei Jahren vergangen waren und Maya in das Reich ihrer Erinnerungen lockte …

    Maya saß auf ihrem Lieblingsplatz, der Schaukel unter dem Apfelbaum, den Rücken an eines der Taue gelehnt. Ein Bein hatte sie an sich gezogen, ihr Buch darauf abgestützt; mit dem anderen stieß sie sich in gleichmäßigem Takt vom Boden ab. Ihre Schuhe lagen im Gras, und die Strümpfe ringelten sich unordentlich darum. Hier war es wie in einer grünen Laube. Hohe Sträucher – Flieder, Holunder, Liguster – schirmten den Baum vor neugierigen Blicken aus dem Haus ab. Die Innenseite der Mauer, nur wenige Schritte entfernt, war von zweifarbigem Efeu überzogen, und um den Torbogen rankte sich eine Kletterrose, die stolz ihre fülligen Blüten präsentierte. Durch das schmiedeeiserne Gitterwerk des Tores zur Black Hall Road hin waren das sich entfernende Klappern von Pferdehufen und das Knirschen von Rädern über Stein zu hören, alles in harmonischem Einklang mit dem Vogelgezwitscher in der Luft. Mayas Nase zuckte leicht, wie immer, wenn sie zufrieden war. Sie genoss die Mischung aus kühlen, glatten Grashalmen und
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