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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond
Autoren: N Vosseler
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verschneiten Zweige der Sträucher in die Richtung, aus welcher der Ruf gekommen war. Auf der Veranda konnte sie das lavendelfarbene Samtkleid Angelinas ausmachen. »Maya? Bist du da unten irgendwo?« Es sah Angelina ähnlich, dass sie sich nicht die Mühe machte, auch nur einen Fuß in den Garten zu setzen, damit der Schnee nicht ihre Schuhe ruinierte. Stattdessen stellte sie sich auf Zehenspitzen, reckte sich und machte einen langen Hals. Obwohl ihre Schwester gewiss nicht mehr als eine Handvoll Bücher in ihrem Leben gelesen hatte, war sie leicht kurzsichtig. Aber Angelina hätte lieber einen ihrer Finger geopfert, als sich eine Brille anfertigen zu lassen. »Brillen sind nur etwas für Blaustrümpfe, und kein Mann, der etwas auf sich hält, würde sich je mit einem Blaustrumpf sehen lassen«, lautete ihr verächtlicher Kommentar zu diesem Thema. Als ob ausgerechnet Angelina je wirklich Gefahr liefe, mit diesem Spottnamen bedacht zu werden, der für gebildete, auf Unabhängigkeit und Gleichberechtigung pochende Frauen reserviert war, dachte Maya oft in einem Anflug von wohltuender Gehässigkeit. Tatsächlich war es so, dass Gentlemen jeglichen Alters es hinreißend fanden, wenn Angelina die Nasenwurzel kräuselte und ihre blauen Augen diesen gewissen Schimmer erhielten, sobald sie sich bemühte, etwas in der Entfernung scharf zu sehen. So, wie grundsätzlich immer alles als hinreißend empfunden wurde, was Angelina tat oder sagte.
    Hastig verstaute Maya den Brief, sprang auf und schlüpfte durch das Gartentor nach draußen. Trotz des vielversprechenden Namens war die Black Hall Road wenig mehr als ein einfacher Feldweg, ein wie mit grobem Faden hingestichelter Saum der Stadt, ungepflastert, die Schneedecke nur von wenigen Wagenspuren durchschnitten. Jenseits der Straße schlummerten Wiesen und Äcker wie unter einem Daunenbett aus Schnee. Am Horizont klammerten sich die Astfinger grauborkiger Hainbuchen an den Himmel aus Blei, und einzelne Weißdornsträucher entfächerten ihr fedriges Gezweig. Unterhalb von Black Hall reihten sich kastenförmige Häuser aneinander, wie sie Anfang des Jahrhunderts so beliebt gewesen waren. Sie konnten es sich erlauben, in gleichmütiger Gelassenheit aus ihren hohen Sprossenfenstern nach vorne auf die elegante, baumbestandene St. Giles Street hinauszublicken. Denn sie wussten, die Gärten in ihrem Rücken waren durch hohe Mauern vor den Füchsen geschützt, die des Nachts von den Feldern herüberstromerten. Mauern, von Flechten überkrustet wie Schildkrötenpanzer, an denen Maya nun entlanglief, stadteinwärts, in Richtung des einzigen Ortes, der ihr ungestörte Zuflucht zu bieten vermochte.

2
     Zwei junge Männer jagten durch die luxuriöse Halle der Euston Station, der eine im Scharlachrot der East India Company, der andere in Khaki-Uniform. Jeder einen Seesack über die Schulter geworfen, schlugen sie Haken um die livrierten Lastenträger, die Pakete schleppten oder Kisten und Koffer auf Karren vor sich herschoben. Sie eilten zwischen den Reisenden hindurch, die im Gegensatz zu ihnen noch Zeit hatten und gemütlich herumschlenderten. Vorbei an anderen, die gerade angekommen waren und Ausschau hielten nach Verwandten und Freunden, die sie abholen sollten. Um einem Zusammenprall in letzter Sekunde zu entgehen, traten zwei ältere Ladys mit entrüsteten Mienen ein paar schnelle Schritte zurück, dass ihre weiten Röcke ins Schwingen gerieten. Ein Mann mit grauem Spitzbart und Zylinderhut drohte mit seinem Gehstock und schickte ihnen lautstarke Verwünschungen hinterher. »’tschuldigung«, rief der Rotberockte hinter sich, »’zeihung«, kam das Echo seines Begleiters, und sie rannten weiter, so schnell sie ihre Beine trugen, hin zu einem der Durchgänge, die zu den Gleisen führten.
    Der schrille Pfiff des Schaffners gellte über den dampfvernebelten Bahnsteig, fing sich unter dem Glasdach mit dem filigranen Netz aus Metallverstrebungen und schallte lautstark zurück. Eine Oktave tiefer antwortete die Lokomotive, stieß einen neuen Schwall an Dampf aus und ruckte seufzend an. In vollem Lauf sprangen die beiden Nachzügler auf die Trittleiter des hintersten Wagens, und der letzte Zug der »London & North Western Railway« für diesen Tag rollte aus dem Bahnhof.
    »Geschafft!« Jonathan Greenwood stopfte seinen Seesack oben in die Gepäckablage. Keuchend warf er sich in das pflaumenblaue Polster des Sitzes und streckte seine schmerzenden Beine in den hohen Stiefeln von
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