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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond
Autoren: N Vosseler
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angeordneten, stramm zurechtgezurrten Lockengebilden ihrer Mutter, leicht unfrisiert. Als sie genauer hingesehen hatte, hatte sie dem Altersfirnis über Farbe und Leinwand zum Trotz bemerkt, dass die Frau ebenso merkwürdige Augen hatte wie sie selbst. Niemand sonst in ihrer Familie hatte solche Augen.
    »Großvater«, hatte sie ihn damals gefragt, »wer ist das auf dem Bild?« Die knotigen Hände hatten sich fester um seinen Spazierstock geschlossen, während Dr. John Greenwood erst lange das Gemälde, dann Maya angesehen hatte. »Das ist deine Großmutter Alice, Liebes. Sie ist schon lange tot. Da hat es dich und auch Jonathan noch gar nicht gegeben. Du bist ihr sehr ähnlich.« Er hatte dabei so traurig geklungen, dass Maya nicht gewusst hatte, was sie darauf hätte sagen sollen, und ein wenig beschämt weiter an ihrem Keks herumgeknabbert hatte. Dennoch war sie seitdem froh zu wissen, dass sie die gleichen Augen wie ihre Großmutter hatte, auch wenn diese nicht mehr lebte.
    Erneut schlugen die Glocken von St. Giles und seufzend wälzte sich Maya auf die andere Seite, schob ein Bein unter der Decke hervor, weil ihr nun wieder zu warm war. Seit dem letzten Winter war ihr Großvater auch im Himmel. So wie Jonathans Mutter, an die er sich aber gar nicht mehr erinnern konnte.
    Ihre Mutter mochte es nicht, wenn sie »tot« statt »im Himmel« sagte; das sei eine Unart der Ärzte, schimpfte sie dann immer. Maya gab sich Mühe, darauf zu achten, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. So ging es ihr mit vielen Dingen, in denen ihre Mutter sie korrigierte. Sie verstand auch nicht, weshalb sie viel häufiger ermahnt wurde als Angelina. Manchmal, wenn sie nachts aus ihrem unruhigen Schlaf aufwachte, dachte sie darüber nach und über den Tod und den Himmel. Auch über ihre Familienverhältnisse, die ihr manchmal so verworren erschienen, dass ihr darüber ganz schwindlig wurde, und über Jonathan, der ihr mit seinen fünfzehn Jahren schon so erwachsen vorkam und den sie so selten sah, seit er in Winchester zur Schule ging. Eigentlich war er ja nur ihr Halbbruder. Ob sie ihn wohl noch lieber hätte, wenn er »ganz« ihr Bruder wäre? Angelina war »ganz« ihre Schwester, und doch hatte Maya sie nicht annähernd so lieb wie Jonathan, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gab. Immer wieder neue Gedanken, denen ständig neue Fragen folgten. Kein Wunder, dass sie morgens so müde war und gar nicht aufstehen wollte, während Angelina immer frisch und munter aus dem Bett sprang.
    Jetzt war Maya gänzlich wach. Manchmal, wenn sie mit solchen Gedanken beschäftigt war, half es ihr, mit ihrem Vater darüber zu sprechen. Während alle anderen schon längst schliefen, arbeitete er oft noch in seinem Arbeitszimmer im mittleren Stockwerk oder in der Bibliothek im Erdgeschoss. Trotzdem war er immer schon aus dem Haus, ehe es der Nanny überhaupt gelungen war, Maya aus den Federn zu zerren.
    Als junger Mann war er weit gereist, nach Italien und Griechenland, bis nach Vorderasien. Überall im Haus verteilten sich angeschlagene Vasen und Teller, mit Grünspan überzogene Münzen und verwitterte, mit Schnitzereien überzogene Holzstücke. Sie waren alle sehr wertvoll und blieben deshalb hinter Glas verschlossen, unerreichbar für Mayas neugierige Finger. Gerald Greenwood wusste so viel über vergangene Zeiten, unterrichtete die Studenten am Balliol College in Alter Geschichte, und trotzdem schien er selbst immer noch mehr lernen zu wollen. Für Maya aber hatte er immer Zeit, gleich wie spät es war. Achtlos schob er dann seine Papiere und Bücher beiseite, zog sie auf seine Knie und hörte ihr aufmerksam zu, sog gedankenvoll an seiner Pfeife, ehe er bedächtig antwortete.
    Maya hob vorsichtig den Kopf. Unter der Zimmertür schimmerte ein Hauch blassgoldenen Lichts hervor. Sie zögerte einen Augenblick; dann stand sie auf, tapste auf nackten Füßen über den Boden und schlüpfte leise zur Tür hinaus, angestrengt darauf bedacht, ihre Schwester nicht zu wecken.
    Sie tastete sich durch das Halbdunkel des Korridors, umging dabei geschickt jede knarzende Stelle des teppichbedeckten Holzbodens. Ihre Mutter jammerte immer wieder über den »hässlichen alten Kasten«, wie sie Black Hall oft nannte. Aber Maya liebte dieses Haus, gerade weil es so verschachtelt gebaut war und düstere Ecken hatte, in denen es sich im Dunkeln so wunderbar gruseln ließ. Obwohl es Platz genug gab, hielt ihre Mutter es für Verschwendung, jedem der beiden Mädchen
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