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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond
Autoren: N Vosseler
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trockener, kratziger Erde unter ihrer Fußsohle und zwischen den Zehen. Die Volants ihrer Unterröcke unter dem hellen Sommerkleid kitzelten an den nackten Beinen, wenn die Schaukel vor- und zurückschwang. Für einen Moment schloss sie die Lider, legte den Kopf in den Nacken, ließ sich ein Fleckenmuster aus Sonne und Blätterschatten ins Gesicht malen, ehe sie sich wieder über die bedruckten Seiten beugte und an ihrem sauren Apfel knabberte. Ein Schatten am Rande ihres Gesichtsfelds ließ sie aufblicken. Mit einem erstickten Aufschrei entglitt ihr das Buch, das unsanft im Gras landete.
    Ein Mann stand im Garten, seinen zerdrückten Panamahut in den Händen, einen Seesack zu seinen Füßen, und beobachtete sie, mochte der Himmel wissen, wie lange schon. Alles an ihm war finster, wirkte trotz des ordentlichen Anzugs bedrohlich: das schwarze Haar, der Bart, die Glut in den dunklen Augen. Und doch verspürte Maya keine Furcht. Auch wenn die verblassten Erinnerungen, von ihrer Fantasie über die Zeit farbig übermalt und verschwenderisch ausgeschmückt, kaum ein Wiedererkennen erlaubten. Fieber und rituelles Fasten hatten ihn ausgezehrt, Sonne und Monsun, Hitze und Staub seine Haut aufgeraut und gegerbt. Das Wenige, was an jugendlicher Weichheit einst vorhanden gewesen war, hatten Wüste und Tropen abgeschliffen, war harten Gesichtszügen gewichen. Unter militärischem Drill und unstillbarem Hunger nach Erfahrungen und Eindrücken hatte jedes der vergangenen Jahre mehr als deutliche Spuren hinterlassen. Ein Lächeln schien in seinem Gesicht auf, so strahlend, dass es beinahe störend wirkte auf den Zügen, die von Natur aus so gar nicht auf Herzlichkeit ausgerichtet waren. »Bekomme ich keine Begrüßung, Prinzessin?«
    Unzählige Male hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde. Wie er eines Tages wieder vor ihr stehen, wie sie ihm entgegenfliegen und ihn umarmen würde, ganz genau so, wie sie es in jener Aprilnacht als kleines Mädchen zum letzten Mal getan hatte. Doch nun starrte sie ihn nur an, unfähig, sich zu rühren. Zu unwirklich war diese Erscheinung, wie ein Traum oder eine Fata Morgana. Und sie mochte nicht einmal ihrem Herzen trauen, das in ihrem Brustkorb wild umhersprang.
    »Nun, wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will, so muss der Prophet sich eben zum Berg bemühen«, rief Richard und kam auf sie zu.
    Endlich löste sich Maya aus ihrer Erstarrung und kletterte langsam von der Schaukel. Sie ließ den angebissenen Apfel fallen und wischte mit der Hand verstohlen über ihr Kleid. Als Richard direkt vor ihr stand, nahm er ihre Hände und musterte Maya eindringlich, doch er sagte nichts. Sein Bart zuckte leicht, wie amüsiert, als er ihre Hand, die noch klebrig war vom Saft des Apfels, an seine Lippen drückte. »Wenn das«, murmelte er in ihre Handfläche, »nicht der Geschmack des Paradieses ist!« Maya schoss das Blut ins Gesicht; sie wollte sich ihm entziehen und vermochte es doch nicht. Unvermittelt wurde Richards Blick ernst, als er mit dem Daumen über Mayas Wangenknochen fuhr, seine Augen jedes Detail ihres Gesichts abtasteten. »Du bist zu jung für solche Kummerschatten, Majoschka! Wo ist das unbeschwerte kleine Mädchen geblieben, das ich die ganze Zeit in meinem Herzen getragen habe?«
    Eine einzelne Träne löste sich, floss über seine Hand, und dann begann Maya zu weinen: vor Glück, dass ihr Warten endlich ein Ende hatte, und vor Erleichterung, dass mit Richard jemand gekommen war, der um die Einsamkeit derer wusste, die anders waren, als die Gesellschaft es von ihnen erwartete. »Nicht weinen«, raunte er und hielt sie fest, wiegte sie tröstend. »Ich bin doch wieder da. Dein alter Gauner ist zurück!« Beide Hände um ihr Gesicht gelegt, bog er ihren Kopf leicht nach hinten. Sanft presste er seine Lippen auf ihre Stirn, auf die nassen Spuren auf Wangen und Kinn, und dann, nach einem kurzen Zögern, auf ihren Mund. Er schmeckte salzig, fast bitter, nach Rauch und Richard und nach der Fremde, aus der er kam. Maya zuckte kaum merklich zurück, als sich seine Zungenspitze zwischen ihre Lippen schob. Sein nach Pomade duftender Bart kitzelte an ihren Mundwinkeln, als er leise lachte. »Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich der Erste sein würde, der dieser Versuchung erliegt.« Er küsste sie, bis sie nach Atem rang, küsste sie, bis sie glaubte, sich aufzulösen, in Sonnenlicht und warme Erde.

    »Maya! Maa-yaa! « Sie fuhr zusammen und spähte durch die kahlen, weiß
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