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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Leben oder gelebt werden
 
Schritte auf dem Weg zur Versöhnung
     
    »Papa, ist das Leben schön?«
     
    Mitte Juli
2001. Wenige Tage zuvor war meine Mutter verstorben. Wie tot fühlte auch mein
eigenes Leben sich an. Der Mensch, der mich bedingungslos geliebt und dem ich
zutiefst vertraut hatte, der stets meine große Stütze gebildet hatte, dieser
Mensch war nun gegangen. Ganz plötzlich und unerwartet. Es war ein eisiger
Schock, der eine tiefe Kluft in meine Seele schlug.
    Ihr Tod
ließ schlagartig alle Räder meines bisher so beschäftigten Alltags
stillstehen. Dinge, die noch wenige Stunden zuvor unglaublich wichtig
erschienen, lösten sich in Minuten förmlich in Luft auf. Wohl kaum ein anderes
Ereignis zwingt so zum Nachdenken über unser Leben wie der Tod eines geliebten
Menschen.
    Auch wenn
anfänglich Trauer und Schmerz alle meine Gefühle überwältigten, so erkannte
ich doch mit der Zeit, dass der Tod meiner Mutter eine wichtige Botschaft auch
für mein Leben enthielt. Ihr Scheiden wurde zum Weckruf, mich mit dem eigenen
Schicksal endlich in rückhaltloser Ehrlichkeit auseinanderzusetzen und mir
keine Lasten aufbürden zu lassen, die ich letztlich nicht tragen kann - und
darf. Er war auch eine Aufforderung, nicht weiter die Rolle eines Opfers
einzunehmen, sondern meine Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen: zu leben,
statt gelebt zu werden.
    Damals, im
Sommer jenes traurigen Jahres, war ich allerdings noch nicht in der Lage, diese
Botschaft in ihrer vollen Tragweite zu erkennen. Zum Schock des blitzartig
eintretenden Verlustes kamen eine Reihe persönlicher Schwierigkeiten, die mich
zunehmend drückten. Ich hatte sie mir selbst zuzuschreiben, denn sie waren die
Folge meiner Fehlentscheidungen in der Vergangenheit. Privat steckte ich in der
Sackgasse, und beruflich war meine Entwicklung zum Stillstand gekommen. Ich
war 38 Jahre alt, theoretisch auf der Höhe meiner Möglichkeiten, praktisch
aber stand ich mit dem Rücken zur Wand. Ich fühlte mich niedergedrückt und
ausgepumpt, hoffnungslos verstrickt in ein scheinbar unentwirrbares Netz von
Kräften außerhalb meiner Kontrolle. Ich war tief verunsichert in meinem Denken
und Fühlen, mein Dasein reduziert auf ein passives Funktionieren nach außen hin
und ein mechanisches Reagieren im Innern. Ich lebte gleichsam neben mir
selbst.
    Und ich
fühlte mich allein, ganz allein. Sogar in der Gegenwart jener Menschen, die
ich liebte, fühlte ich mich allein. Nachdem meine Mutter gegangen war, hatte
ich dieses bodenlose Gefühl des Alleinseins kennengelernt. Eine Empfindung,
vor der man zunächst steht wie vor einer unbegreiflichen Tatsache. Dieses
Alleinsein ist mehr als Einsamkeit, es geht noch weit tiefer. Denn selbst in
der Einsamkeit ist Verbundenheit mit anderen Menschen, wenigstens in Gedanken
und Gefühlen, vorhanden, gibt es noch einen Halt. Dieses tiefste, vollständige
Alleinsein aber ist halt- und trostlos. Es ist wie der Sturz in ein bodenloses
schwarzes Loch. Eine Erfahrung, die kein Außen kennt, denn man haust
ausschließlich in seinem Innern, und da ist nur eines: Leere.
    Es sollte
geraume Zeit dauern, bis dieses bleierne, alle Lebendigkeit erstickende
Grundgefühl weichen würde. Ich musste einen langen, beschwerlichen Weg der
inneren Erneuerung gehen. Sein Ausgangspunkt lag dort, wo meine wichtigsten
Schicksalsfäden geknüpft wurden: im engsten Familienkreis.
    Es gehörte
für mich zur täglichen Routine, unseren Sohn zum Kindergarten zu fahren. Danach
bestieg ich gewöhnlich die Regionalbahn, um zur Arbeit nach Frankfurt zu
gelangen. Dieser Tagesbeginn war wie ein Rest von heiler Welt für mich, nachdem
der Tod meiner Mutter auch noch zu einem nationalen Medienereignis geworden
war, das erbarmungslos über unsere Familie hereinbrach. Auch an einem Kind von
fünf Jahren ging all das nicht spurlos vorbei. Dennoch war es in der Lage, sich
weiterhin unbefangen seinem Alltag zu widmen. Die Gemeinschaft mit meinem Sohn
tat mir gut. Sie schenkte mir Leichtigkeit und Liebe.
    Doch
dieser Morgen war anders. Schon sehr früh hatte sich die Atmosphäre mit
schwüler Sommerhitze aufgeladen. Eine stickige Stille lastete auf allem, wie
vor einem kräftigen Gewitter. Das Gemüt zweier sich nahestehender Menschen in
jener Situation erweist sich vielleicht als besonders empfänglich für
atmosphärische Stimmungen, jedenfalls verharrten wir heute, ganz anders als
sonst, gemeinsam in stummer und angespannter Nachdenklichkeit.
    Wir hatten
etwa die Hälfte der
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