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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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auf, das man
wohl »heiligen Zorn« nennt, eine Regung, die man selbst als uneingeschränkt
gerechtfertigt empfindet, die einen aber letzten Endes nur innerlich lähmt und
zu maximaler äußerer Aggression treiben kann. Dieser »heilige Zorn« wurde mit
den Jahren zunehmend zum Gestalter meines Lebens. Dies zu erkennen war
allerdings ein weit fortgeschrittener Teil der Lektion. Es sollte Jahrzehnte
dauern, bis ich es verstand, und noch länger, bis ich die Energie des Zorns in
Gelassenheit umwandeln konnte.
    Damals, in
jener Situation auf dem Schulhof, verstand ich nur eines: dass ich die Ehre
meines Vaters und unserer Familie verteidigen, dass ich mich selbst meiner Haut
erwehren musste. Es kam zum Gerangel. Sie hänselten mich weiter und trieben
ihre Spaße mit mir. Ich begann geplant zu handeln, denn eines war klar: Gegen
die ganze Gruppe hatte ich keine Chance. Also konzentrierte ich mich auf
einen, der aus dem Hintergrund die anderen antrieb, ohne sich selbst
körperlich einzumischen. Ich befreite mich und ging auf ihn los. Er war clever
und reaktionsschnell und schlug einen Haken. Damit ließ er mich ins Leere
laufen. Ich rutschte auf dem regennassen Schulhof aus und stürzte. Um mein
Elend vollzumachen, fiel ich der Länge nach in eine große, tiefe und dreckige
Pfütze. Allüberall höhnisches Gelächter. So endete die erste Pause mit mir als
begossenem Pudel, zum Gespött meiner Klassenkameraden.
    Der
Lektion nächster Teil. Ein triefendes Häufchen Elend, saß ich nun in der
Klasse. Meine Gegner trugen Unschuldsmienen zur Schau. Die Lehrerin hatte sich
schnell ein Urteil gebildet. Hier galt es ein Exempel zu statuieren, und dass
es gleich am ersten Schultag geschehen musste, schien ihr nur recht. Wegen
Raufens und schlechten Betragens setzte es die ersten Hiebe für mich. Mit der
Stahlkante eines langen Lineals, gezielt auf die Fingerkuppen. Eine Maßnahme,
die, wie auch meine Mitschüler bald erfahren würden, zum pädagogischen
Standardrepertoire unserer Lehrerin zählte. Schlimmer noch als die körperliche
Pein aber erschien mir die seelische. Irgendein Teil von mir erahnte sofort,
dass hier etwas geschehen war, was länger anhalten und weit tiefer reichen
würde als schmerzende Fingerkuppen.
    Der
vorläufig letzte Teil meiner Lektion. Daheim angekommen, fiel meine Mutter ob
meines zerzausten, schmutzigen Äußeren aus allen Wolken. Das hatte sie nicht
erwartet! Es muss für sie ein wahrhafter Schock gewesen sein, dass ihr ältester
Sohn schon an seinem ersten Schultag auffällig wurde. Sonst wäre sie mir gewiss
nicht mit einer Härte begegnet, die mich bestürzte. Ich war es einfach nicht
gewöhnt, dass sie kein Wort von dem hören wollte, was ich vorzubringen hätte.
Auch war mir die ganze Sache hochpeinlich, ich wusste ja, dass ich alles andere
als einen guten Eindruck hinterlassen hatte. Aber ich fühlte mich nicht als
alleinig Schuldiger, und schließlich hatte ich nicht nur mich selbst verteidigen
wollen, sondern auch die Ehre unserer gesamten Familie! So hatte ich das
kindlich reine Gefühl, für uns alle mein Bestes gegeben zu haben, jedenfalls
der Absicht nach.
    Doch für
meine Sicht der Dinge konnte ich damals nicht auf die Unterstützung meiner sonst
so verständnisvollen Mutter rechnen. All meine Erklärungsversuche wurden nicht
verstanden, im Gegenteil, sie schienen ihre Verärgerung nur noch zu steigern.
Nun bekam ich erst recht ein schlechtes Gewissen, weil ich erkannte, dass ich
den Menschen, den ich am meisten liebte, tief enttäuscht hatte. Und wieder
klopfte ein ganz neues Gefühl an meine Tür: eine eigentümliche Mischung aus
Trauer, Wut und Verwirrung. Ich war unglücklich. Nicht nur, weil mir selbst
innere und äußere Schmerzen zugefügt worden waren. Sondern auch, weil ich
offenkundig versagt und damit jemanden, der mir sehr nahe stand, unglücklich
gemacht hatte. Ohne es auch nur ansatzweise verstehen zu können, hatte ich
gleich an meinem ersten Schultag eine neue Wertordnung kennengelernt, die von
nun an mein Leben bestimmen würde. Hier wurde mit ganz anderem Maß gemessen,
als ich es bisher gewohnt war: Ich wurde nicht danach beurteilt, was ich war, sondern
was man mir zuschrieb.
    Viele
Jahre später erst wurde mir klar, dass die Dynamik dieses Tages meine
persönliche Problematik wie mit einem Brennglas konzentrierte und einem ersten
hitzigen Konflikt zutrieb.
    An meinem
ersten Schultag wurde eine Weiche für mein Leben gestellt. Der Weg, der für
mich bestimmt war, hat
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