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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter
Autoren: Leben oder gelebt werden
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es Schein-Wendepunkte, vermeintliche und wirkliche Chancen -, die
ich erst nutzen konnte, als ich meinen inneren Frieden gefunden hatte. Doch der
Reihe nach.
    Das Jahr
1969 war, wie bereits erwähnt, ein bedeutsames Jahr in der Karriere meines
Vaters. Ich war mit dabei, als er im Mainzer Landtag als Ministerpräsident von
Rheinland-Pfalz eingeführt wurde. Was ein Ministerpräsident war, konnte ich als
knapp Sechsjähriger nicht ermessen. Das pompöse Ereignis rauschte an mir
vorbei, die Folgen des Amtsantritts allerdings wurden sofort spürbar.
    Vater war
nun ständig in den Schlagzeilen. Ich wusste noch immer nicht, was er eigentlich
tat, aber eines wurde mir doch sehr bald klar: Politik war etwas, das die
Menschen stark beschäftigte, sehr stark sogar. Und: Meine eigene
Befindlichkeit war für mich spürbar mit der Tätigkeit meines Vaters als Politiker
verbunden. Ich begriff, dass Politik in das Leben der Menschen eingreift, aber
dass dies nicht immer alle gut finden. Was mein kindliches Gemüt nicht
begreifen konnte. oder wollte, war, warum andere Kinder auf die Idee kamen,
mich für das, was mein Vater tat, verantwortlich zu halten. Ich wusste ja
nichts davon, dass dies eine von ideologischen Gegensätzen geprägte Zeit war.
Ich wusste nichts von den zwei feindlichen Lagern, die sich damals
gegenüberstanden, wusste nichts davon, dass die politischen
Auseinandersetzungen oft sogar in ein und derselben Familie tiefe Gräben
aufrissen. Wie sollte ich da erst verstehen, warum diese Kinder mich als eine
Art lebendigen Punchingball zu sehen schienen? Sie agierten ja
selbst nur unbewusst die Aggressionen ihrer Eltern aus.
    Unsere
Familie war wie eine nach außen abgeschottete Burg, aber sobald wir Kinder oder
Mutter nach draußen gingen, war für uns dicke Luft. Politik mochte sich für
ein sechsjähriges Kind weit jenseits seines Erlebens und Verstehens abspielen,
doch wenn man Walter Kohl hieß, holte sie einen immer wieder ein.
    Rückblickend
finde ich in meiner Erinnerung Anzeichen dafür, dass auch meine Eltern sich an
die neue Lage gewöhnen mussten. In unseren eigenen vier Wänden wurde eine Klimaveränderung
fühlbar. Bisher hatten meine Eltern ihr Privatleben recht erfolgreich gegen
informationshungrige Journalisten zu verteidigen gewusst. Es war nicht von der
Hand zu weisen, dass sie in dieser Beziehung nun auf ziemlich verlorenem Posten
zu stehen begannen. Sicherlich kann man die heutige Mediengesellschaft nicht
mit den Verhältnissen in den Sechziger- und Siebzigerjahren vergleichen, doch
das Interesse der Öffentlichkeit am Privatleben der Familie Kohl war schon seinerzeit
sehr groß. Ich kann nicht sagen, dass dies bei meinen Eltern uneingeschränkt
auf Gegenliebe stieß. Sie versuchten, stets ganz normale bürgerliche Menschen,
denen jedwedes Schickimicki-Gehabe zuwider war, zu bleiben. Das zunehmende
mediale Interesse an ihrem Privatleben entwickelte sich für sie allerdings mit
der Zeit immer mehr zum Stressfaktor.
    Es war
offensichtlich, dass unsere Mutter nun zunehmend für offizielle und
repräsentative Aufgaben im Umkreis der Tätigkeit ihres Mannes verpflichtet
wurde. Als Familienmanagerin verwaltete sie die Nahtstelle von Privatsphäre
und Öffentlichkeit, eine Aufgabe, die immer anspruchsvoller wurde. Es mag eine
naive Vorstellung unserer Eltern gewesen sein, dass Peter und ich ein Leben wie
andere Kinder führen sollten, aber sie meinten es ganz ernst damit. Wir
sollten unsere Erfahrungen machen und unsere schulischen Leistungen erbringen wie
alle anderen Kinder auch. Es erschien beiden erzieherisch wertvoll, dass wir
keinerlei Privilegien in Schule und Alltag genossen. Das war sicher gut
gemeint. Es entsprach nur nicht der gesellschaftlichen Realität, in der wir
lebten, denn es enthielt einen unlösbaren Widerspruch: Wir sollten als Gleiche
unter Gleichen leben, doch dort draußen wurden wir nicht als Gleiche
akzeptiert.
    Einerseits
war die erzieherische Strategie meiner Eltern erfolgreich, jedenfalls aus
ihrer Sicht, denn wir gaben nie Anlass zu negativen Medienberichten über
irgendwelche »Extratouren«. Andererseits, aus unserer Kindersicht, scheiterte
sie auf der ganzen Linie, indem uns eine Sonderbehandlung in Form einer
Stigmatisierung durch unsere Umwelt verabreicht wurde. Dieses Stigma haben
meine Eltern nie so recht wahrhaben wollen, und wenn es einmal thematisiert zu
werden drohte, schoben sie das Problem lieber beiseite. Notfalls wurde einem
offenen Gespräch mit der typisch
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